- ÜBERSICHT - Meine Bücher und Manuskripte
ROMANE:
- Fremde Wesen (2018)
- Bräute des Mittags (2021)
Erzählbeginn ( Kapitel I/II/III): siehe
"Bräute des Mittags"
- Andere Welten. Roman
(In Arbeit am Zyklus : Bräute des Mittags)
- Das Antigon. Ein Theaterstück
(siehe Ausschnitt unten)
ERZÄHLUNGEN:
Die unzählige Alte (2019)
Stumme Berührung im Wasser. Eine Komposition. Lyrik & Prosa & Musik (2020)
Die Totgeborenen
-Umfassende Erzählungen -
Die Totgeborenen und Berührung :
siehe weiter unten
Stumme Berührung im Wasser. Eine Komposition in Lyrik und Prosa (2020)
Zwei Hörproben auf youtube - Kanälen unter Autorin zu finden
LYRIK: Letzte Erste Wasser
Gedichtband 1 (siehe Stumme Berührung im Wasser)
Der gefräste Stimmlaut
Gedichtband 2 (siehe Stumme Berührung im Wasser)
KINDERBÜCHER:
Der kleine Mausebär (1999)
1. Auflage vergriffen
Die Elalas. 2. Kinderbuch
(Neuerscheinung Juli 2022, siehe `"Die Elalas")
Erzählungen
Das Antigon. Ein Theaterstück.
Personen
Drei auswechselbare Männer
Drei auswechselbare Frauen
Ein weibliches Kind namens Antigon
Eine sehr alte Frau im Hintergrund
Der Chor (Männer und Frauen und später Kinder)
Eingangsszene:
Ein Mann steht vor einem schmalen Garagentor, dessen Öffnung die Umrisse eines dunklen und teuren Wagens erahnen lassen. Er bleibt während seines monologartigen Sprechgesangs auf der Stelle stehen, ohne seine Beine zu bewegen.
Er sagt: „Du bist jetzt da.“ Er senkt den Kopf. Er sieht schwerfällig aus, als möchte er seinen Kopf stützen. Er hebt den Kopf. „Du bist dort“, sagt er, „und weißt Du, zwischen uns ist nichts, seit Du dort bist“. Er streckt den Arm aus, deutet auf das Auto. „Du bist dort hineingekrochen, um Dich zu verstecken“. Die Stimme des Mannes wird lauter und klingt ungeduldig, als könne er sich kaum noch beherrschen. Er lässt den Arm fallen, er schlägt leicht mit der Hand auf sein Hosenbein ein. Er verzieht sein Gesicht, er ist angewidert von sich selbst, von der Situation, von allem, was ihn und seine Frau berührt. „Das weißt Du nicht“, sagt er, „das kannst Du nicht wissen.“ Seine Schultern sind rund, nach vorn gebeugt.
Er weiß nicht, dass er beobachtet wird, die ganze Zeit über, die er da steht. Er wird von seiner Frau beobachtet. Sie steht schräg hinter ihm, etwa zehn Meter entfernt. Sie lehnt an einer Eckhauswand und manchmal dreht sie den Rücken und den Kopf, als wolle sie nötigenfalls verschwinden.
„Du gehst“, sagt die Frau, „immer gehst Du von mir weg. Jetzt bin ich einmal diejenige, die geht, die gegangen ist, die nie wieder kommt, es sei denn....“. Die Frau macht eine Pause, holt ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche und steckt sich eine Filterzigarette in den Mund. Sie kramt in ihrer Umhängetasche nach einem Feuerzeug. Sie findet keins, sie kramt weiter. Sie hebt den Kopf. Es sieht aus als habe sie immer schon den Kopf auf diese Art gehoben: „Du kannst sie nicht mehr sehen“, sagt sie. „Die Frau, die du einmal gekannt hast. Das ist deine Strafe. Das tote Kind ist meine Strafe. Das steht schon in der Schrift geschrieben, in der Bibel. Aber es ist dumm von mir, so zu reden.“
Auf dem Boden vor dem Garagentor wird ein kleines dünnes Rinnsal sichtbar. Es ist Blut, frisch und dunkel. Beide können es sehen, der Mann deutlicher, die Frau erahnt es. Sie erstarrt, tritt einen Schritt zur Seite, stellt sich wieder auf. Der Mann blickt sich suchend um. Er bemüht sich um eine Haltung, die dem Rot ausweicht. Er bewegt die Lippen kaum beim Sprechen. „Wir brauchten Geld damals, weißt du? Wir haben alles getan dafür, was man tun konnte, um uns durchzubringen. Wir haben eingesteckt und geschwiegen. Die Zähne zusammen gebissen, uns geschämt. Aber geschuftet. Ob Du das noch weißt, wüsste ich gern.“
Die Frau bückt sich und drückt die Zigarette auf dem Boden aus. Sie zieht mit Hast ihre Schuhe aus. „Ich weiß, dass du nicht mit mir geredet hast“, sagt sie. „Du redest, um sie herbeizureden.“ Sie blickt den Mann an, auf seinen Hinterkopf. Sie geht barfuß am Mann vorbei, bückt sich, Hände und Knie auf dem Boden und beginnt das Blut aufzulecken. Der Mann zuckt zusammen. Er schreit mehr in den Raum hinein als zu ihr: „Lass das. Ich kann nicht mehr“.
1.Szene:
Antigon sitzt nackt auf einem kleinen Schemel, über ihren schmalen Schultern liegt eine zerzauste, rosafarbene Decke. Sie onaniert. Sie hat nur eine Hand, die rechte. Der andere Arm ist ein Rumpf, der aus der linken Schulter wächst. Es tut ihrer Schönheit keinen Abbruch, dass sie nur einen Arm hat. Ihre Schönheit besteht in ihrer graziösen Fragilität. Sie sitzt da in kerzengerader Haltung. Sie beginnt mit ihrem Po und ihrem Becken auf dem Schemel zu kreisen. Sie genießt, was sie tut. Sie tut es langsam. Sie bewegt ein Bein dabei, hebt es an, beugt es. Sie seufzt ab und zu, schnauft leise, ihr Atem geht schneller. Eine alte Frau im Hintergrund sieht ihr zu. Sie wird angerufen von der sehr alten Frau im Hintergrund. Man sieht nur den Schatten von der Frau, ihr Gewand und ihr erleuchtetes, weiß geschminktes Gesicht. Das Gesicht ist ohne Schreck. Die weiße Farbe untermalt die Regungen des Gesichts. Es ist von stiller starrer weißer Trauer im Gegensatz zu dem Kind. Das Kind sitzt unbekümmert von jeder anderen Gegenwart als seiner selbst. Es ist in seinen Körper vertieft. Es wird nochmals angerufen, mit immer dem gleichen Wort: „Antigone, Antigone“. Das Kind erkennt seinen Namen nicht. Es hört nicht auf ihn. Es hört nicht zu. Es schließt die Augen und zieht die Decke über den Körper und über die Schultern zurecht.
Auf der Erde liegen ein paar bunte, zerrissene Strümpfe, eine graue Hose mit Hosenträgern, ein Kartoffelsack, ein Hut, ein roter Schal und eine Schere. Das Kind bückt sich. Es fällt Licht auf seine nackte Schulter und einen spitzen Brustansatz. Es bückt sich, hebt die Schere auf und schüttelt das Haar. Es hebt den Arm, neigt den Kopf zur Seite, greift einen Haarstrang nah an der Kopfhaut und schneidet sich langsam das von drei Fingern umschlossene Haar ab. Es sagt: „Warum sollte ich auf einen Namen hören? Ich bin kein Mädchen. Ich will kein Mädchen sein. Ich bin nicht geboren.“
Die alte Frau taucht auf mit einem Schal in der Hand. Er sieht genauso aus wie der rote Schal auf dem Boden, ist aber länger und hat Fransen. Die alte Frau hat strähniges Haar, ein energisches Kinn und leuchtende Augen. Sie ist ein heller, glasklarer Typ mit üppigem Gewicht, was ihrer Weiblichkeit aber keinen Abbruch tut. Sie ist in allem das Gegenteil von dem Mädchen, das sie mit ihrem Namen anruft:
„Antigone, wach auf. Meine Kleine, du bist jetzt zehn Jahre alt. Du wirst eine Frau sein. Gefühle sind schon da, in deiner Hand, überall, das spürst du doch.“
Antigon verharrt in ihren Bewegungen. Sie wartet und verschließt sich zugleich den Worten von außen. Sie hebt langsam ihre Hände und legt sie an die Ohren. Sie senkt dabei leicht ihren Kopf. „Ich will dieses lange Haar nicht“, sagt sie. „ Kurz, kurz müssen sie sein. Ich will eine Glatze. Oder nichts, einfach nichts, nach nichts aussehen, nach etwas Schmutzigem, nach etwas, was niemand sucht und niemand mag, vor dem man die Augen verschließt.“ Die Alte schüttelt den Kopf. Sie geht näher an Antigon heran. „Du kannst nicht nichts sein, du bist dazu bestimmt, von den Göttern, dem Schicksal, nenn es wie Du willst, etwas anderes zu sein.“
Das Kind bückt sich wieder. Es nimmt die Schere vom Boden auf. Mit einer zornigen Geste wirft sie sie der alten Frau ins Gesicht, die aufschreit und sich ein Auge und den Mund zuhält. Ihre Hände werden sofort rot, die untere Lippe ist gespalten und blutet stark. Antigon sagt in den Raum hinein: „Ich bin das Mädchen nicht, das du siehst. Nicht die Frau, auch später nicht. Ich war nichts als dies Kind, ein Junge, den niemand wollte. Und nun hab ich dies Geschlecht entdeckt, das wie ein Spiel ist und es macht Spaß.“
Die alte Frau windet sich vor Schmerz und zieht sich zurück. Auftritt des Chors.
Chor: Antigone will sich verbannen
Getrennt von ihrem Namen leben
Geglaubt hat sie den Staub zu trennen
Von der Asche wäre einfach:
Ihr Haar trägt sie kurz
Und im Willen
Gekannt zu werden als ungeborener Sohn
Hat sie sich
Das Fremde auferlegt als Eigenes
Antigone irrt sich im Ganzen
Sie hat von früh an sich betrogen
Geglaubt an Wiegensprüche,
die über sie gefällt.
Sie fängt nun an sich zu erinnern...
Antigon hebt den Kopf und lauscht.
2. Szene:
Zwei Männer stehen sich gegenüber....
Die Totgeborenen (Frühwerk, 1984-1986, Auszug S. 14-16)
Warum sollten wir uns täuschen wollen? Der Weg durch das schmiedeeiserne schwarze Tor führt auf einen Pfad, dessen Wegstrecke, wer sie zurückgelegt hat, unschwer als die eigene erkennt. Buchenwald oder das Weniger an Verschlossenheit im Bild vor Augen. Eine tobende Zuschauermasse, die jubelnd von ihren Steh- Sitz- und Wanderplätzen aus an dem dargebotenen Schauspiel teilnimmt, ohne welche es nicht stattfinden würde. Die Eintrittskarten waren auch nicht billig. Der Wind hält den Geschmack von Verwesung bereit, solange wir sie riechen wollen; in einer ersten Garnitur aus Nebeneinander, Ineinander und Gegeneinander hat man das Bedürfnis sich auszusprechen und das Vorwissen, dass es nichts nutzen wird. Nichts hilft dem Bewusstsein mehr, wenn ihm nichts mehr hilft. Sonja starrte auf zwei Kugeln und blickte klarer, die Pupille reizt den Ketzerblick, wenn es einer ist, entfernt schießen ihr Tränen in die Augen, die von den Wangen bis zur Mundwinkelmulde rinnen und die Oberlippe einsalzen. Es ist das erste Mal, dass sie Traunert nicht um Fassung ringen sieht. Wir haben uns im heimlichen Hautkontakt gefunden, Kindern gleich, die sich bei den Händen halten ohne Gewissheit.
Die Umgebung scheint blass, aber gleichsam in überscharfes Licht getaucht, während die Jungen aus der Nachbarklasse ihre Ansichtskarten tauschen und eine Großmutter die Opfer zur Versöhnung mahnt. Der erste Ton aus dem Mund rollt einen Abgrund hinunter. In der "Laube" sitzen sie zu acht an einem Tisch. Sie sitzt neben mir und wird es nicht wagen, ihren Kopf zu heben, die Gesichter, auf die sie schaut, könnten Wurzeln schlagen. Stattdessen bietet sie ihnen ihre Portion an und merkt sich genau, wer darum feilscht. Essen Sie doch etwas. Lehnhardts Stimme, zu der ich den Kopf wenden kann: VOM VERTROCKNETEN LEBEN AUF DEM FENSTERBRETT KÖNNTE ICH ERZÄHLEN. Ein grauer Schmierfilm liegt über seinem Gesicht, aber es ist doch nicht das Meinige, als ich zu lachen beginne.
Ich sehe ihn und sehe Dich nicht, sein Tod trennt uns. Er war nicht zugeschnitten auf Dich und Du hast nicht Platz gefunden in ihm, denn der Boden, auf dem Du Dich hättest niederlasssen wollen, war mit Tatsachen bedeckt. Ich suche Dich mir vorzustellen und die Zeit zu bündeln, in der er weder sitzen noch stehen, geschweige denn liegen durfte. Der Faden, der mich zu Dir führen könnte, verliert sich in meiner heimlichen Hoffnung, dass die Kameraden des nachts geschlichen kamen, um Dir Wasser und einen Kanten Brot zu bringen. Trotzdem sind mir Deine Hände gebunden, am Rande einer Geschichte, die mich fallen lassen wird, wie man einen Sack Kartoffeln fallen lässt, wenn er zu schwer ist.
Diese lächerliche Unschuld, das wachsende Gras. Dachtest Du an eine Zeit, die sich nicht hergibt, einen Fuß vor den anderen zu setzen oder dachte Er es? Hände auch, welche? Jener kniet in dickem schlammigen Morast nur wenige Meter von Dir entfernt und bittet um eine Gnade, die keinem von Euch mehr zuteil wird. Gesegnetes Ungewöhnen von Angesicht zu Angesicht. Im Rücken die Kinder. Sieben, die er hat.
Er findet ihn. Den Tod zwischen Räumen. Erfindet ihn.
Wer ihn liest: zu welcher Stunde des achtundzwanzigsten Augustes siebzehnhundertneunundvierzig, wo immer um drei Zentimeter den, der neben ihm steht, überragt. Für wen wiegt die Büste so schwer, mit der die Wahrheit lügt? Nicht Johann der Große, aber ich denke an Dich und er steht im Wege manchmal. Manchmal ist etwas irgendwie unheimlich geil, so spricht, in der Stoßrichtung ihrer Schuhspitzen, die Jugend, lieber Freund, Du bist die Lotte des Werthers in mir und am achten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig wäre er einhunderfünfundneunzig Jahre alt gewesen. Ich bitte Dich, Auschwitz und Goethe, mangels der Luft findet Oxidation heute nicht statt, das kennst Du doch, - vormittags eine Besichtigung in Buchenwald und nachmittags ein Besuch beim Herrn Geheimrat -, was das ist, Sinn für Kontinuität? Ja, den haben wir noch.
(...)
Berührung, 2003/2004 (Auszug S. 9-14)
Wir brauchten Musik dazu, ohne Musik ging es nicht. Sie war ausschweifend im Rausch der musikalischen Besinnung. Nicht zügellos, nein, keine unserer Geschichten ist zügellos. Sie konnte sehr leise gehen, ohne Szenarien, ohne ausgreifende Gestikulation; in Florenz war es so, in einer schattigen, engen, dunklen, schmalen Gasse, die unscheinbar neben den in den touristischen Broschüren gepriesenen Palazzi, Piazzen, den Uffizien, dem Dom Santa Maria del Fiore, dem Arno, dem Lichtspiel über den von Menschenströmen und Automobilen übergossenen und ausgehaltenen Straßen bestand, neben dem Ponte Vecchio, den lauten Zurufen von Namen, einer Aneinanderreihung von Etwas, das wir laut Stadtplan aufzuspüren hatten, dieses Etwas war stilgeschichtlich, ästhetisch, kulturell nicht zu versäumen für Bildungsreisende. Bei all den verwirrenden Hausnummern hatten wir längst noch nicht alles gesehen, alles kam zu kurz oder war uns immer schon voraus, Kunst, Geschichte, Eleganz, dörflicher Charme in einer florentinischen Großstadt, von den gregorianischen Chorälen bis zum romantischen Taufhaus waren es einzigartige Meisterwerke, hin zu den Arkaden des Ospedale degli Innocenti. Noch längst nicht, noch längst ist nicht alles aufgezählt, was es gibt an Überfrachtung und Überhäufung, an Unwissen über die Vielfalt, an Schönheit, Macht, Raffael und Tizian, Boticelli und Cranach, eine Metropole der Kunst, wirklich, diese Hauptstadt der Toscana, das lässt sich in jedem Reiseführer nachlesen. Ich hatte keinen dabei, aber wir liehen uns einen mitten in Florenz, auf einem Parkplatz nur unweit vom Fluss, von einem netten jungen Mann. Er war an uns beiden interessiert und merkte nicht, dass wir ihn nur erfanden zu unseren Zwecken, die maßgeblicher waren als er. Aber mit dem Stadtplan in der Hand und dem Stolz der Frauen war es einfach, ihm zuzulächeln. Eitel wie die Einsamkeit gingen wir mit erhobenen Köpfen an ihm vorbei, der nicht weniger einsam uns nachblickte aus seinem Häuschen, und wer mehr oder weniger lebte in diesem Moment, mehr oder weniger voneinander gehabt hätte, war durch den Blick, den er uns zuwarf, nicht zu erraten. Ich drehte mich noch einmal um des Straßenschildes wegen und sah ihn als undeutliche Schattierung inmitten der parkenden Autos in das Häuschen hineingemalt zwischen dünnem, schmierigem Fensterglas und brauner Stellwand. Bevor wir uns in mehrere, undurchsichtig aneinander gereihte Straßenecken verliefen und blutrote Fassaden von trauriger Anmut im Sonnenlicht beäugten, ausbrütende Hitze in irre glühender, stellenweise ermattender Tristesse betrachtend, schritten wir unbekümmert fort, drehten einen Bogen um die Santa Maria del Carmine, die wir nicht beachteten und später im Reiseführer bezeichnet fanden. Zur Via di Santo Spirito gingen wir und weiter zum Ausläufer der schmutzigen, quirligen Via Guicciardini, der nachträgliche Zuschreibungen in diesem Satz nicht heraushülfen aus dem nachmittäglichen Stadtbild; wir traten, in Empfindung eines zeitgleichen Bedauerns, auf einen der in dem Verkehrsführer bezeichneten Brückenübergänge als Frauen über den Arno. Das Bild ist stets zuerst da, präsentiert den Vorbehalt, der es aus der Vorstellung heraus malt, ausgelöst durch den Eindruck, der ein äußeres Geschehen zu einem Erlebnis macht; das Gehirn reagiert mit Sensation, einem spürbaren Reflex.
Der Reflex spiegelte sich in der unsichtbaren Kamera, die meine Schwester in der Hand hielt, in der lebendigen Hand, der Schulter, die sie bewegte, sie, ein skandinavischer Typ, ein Klischee, mit ihrem lockenden Haar. Sie war fliehender als ich, eine erträumte Gestalt zum hautnahen Anfassen in den Eingeweiden meiner Aussicht auf das Geschehen. Von glitterndem Flusslicht, sanften mehligen Luftschwaden, verkörperter Schwester, schmalbrüstig zur Mauerbrüstung abflachend, von Straßen begrenzten Stadthäusern eingefasst, formte sich Erinnerung an eine andere braune Stellwand ohne Fensterglas, inmitten einer anderen Stadt an einem anderen Fluss, während wir Pässe vorzuzeigen gezwungen waren, nachdem wir das alte Auto mit den neuen Türen und dem wackligen Auspuff abgestellt hatten zwischen teuer motorisierten, ästhetischen Arten der fahrtüchtigen Zeit. Ich sah in das Gebäude hinein, das mit meinen Schritten ungestört Vorstellung annahm. Dort saß ich auf der Toilette, und über der Trennwand zwischen zwei Klos hing ein Mann und sah auf mich herab. Ich merkte es nicht und putzte meinen Po. Das billige Papier knisterte rauh in meiner Ritze. Die zartere, kraus behaarte Haut zwischen meinen Schenkeln betupfte ich behutsamer. Zwei Blättchen von dem Papier auf dem entrollten Pappring bleiben noch übrig, ich faltete sie unschlüssig zusammen und warf sie über den Brillenrand in das trübe Wasser. Sie fielen auf das kleine trockene Häufchen, das ich mühsam herausgedrückt hatte und überdeckten die Erinnerung an ein schlappes, nasses Handtuch über einem ofenfrischen, überhitzten Brot. Kleine Dampfwölkchen verzogen sich zentimeterlang nach oben. Kein Duft, es roch bescheiden nach nichts. Während ich mein weißes Unterhemd zwischen Unterhose und Haut stopfte und die Jeans hochzog und zuknöpfte, besah ich mir die Schmierereien an der Wand, durch die jemand ein kleines Loch gebohrt hatte. I´m looking forward to you. Eine schnörkellose, steile Handschrift, die schwächlich nach rechts einfiel, schwarze krakelige Blindschleiche auf abgegriffener Fläche, stieß mich zurück. Ich schloss die Tür auf, drückte die Klinke hinunter und zog sie in meine Richtung. Sie klemmte ein wenig, das erkennbare Teil Waschbecken im Vorraum war weiß und oval, der Boden schwarz-weiß marmoriert. Aus den Gängen des Gebäudes schallten Laute, kreisten hallend, kamen nah ans Ohr, klackerte zum Zwischenraum hin, fielen in Unverständliches, verklangen. Ein leises, reißendes, schlitterndes Geräusch kam aus der Nähe. In den Spalt kühler durchdringender Luft mischte sich ein zweiter Atem. Meine Schwester fehlte mir in einer der unzähligen Varianten der Scham. Draußen, vor den Tür, hinter der die Stimmen gingen, stand ein hoch aufgeschossener Mann in erregter, stotternder Verfassung und sagte: Deine behaarten Beine sind das Geilste, was ich je gesehen habe. Er bot Geld.
Es war ein anderer. Einer, der nie wiederkommt, der unvergessen in den Tod, in meinen werdenden, vorhandenen Tod eindringt. Den ich mitnehme. Seine eingerollte Zunge. Seine rauhe Nässe. Seine Finger auf meiner Wölbung. Er kniete, murmelte leise, verlockend, leckte in die Höhlung hinein, in die ovale Rundung. Konzentrisch warb er um die Öffnung, sammelte ertastetes Geschmeide ein, pulsierende Kreise. Die Angst, Fremdkörper der Gier zu sein, zog fort. Meine hilflosen Beine pressten Erde. Zwischen den Felsen, in die sich meine Verlegenheit ergoss, schwitzte Unwissenheit, erübrigte ich. Hemmungslos brach der Körper aus. Eine feuchte Flut sog wild an der Enge, führte in den empfindlichen Wahnsinn, die Härchen an der Innenseite meiner Scham richteten sich auf. Kein weiteres Gefühl in dieser Nähe: Diese herannahende Wilde mit zurückgeworfenem Kopf auf haltlosen Beinen. Im Stehen genoss ich die gefüllte Zunge eines beschnittenen Mannes. Er trug das dunkle Haar im Nacken kurz geschnitten, sonst widerborstig mit einem stark hervorspringenden Stirnwulst oberhalb der schwarzen Augenbrauen. Er hatte Haut mit Ölüberzug. Ein gefasstes Gesicht. Eine Oberlippe, die sich fleischig über die Unterlippe legte, die das Kinn eingrub. Darüber eine gebogene Nase mit ausgeprägten, runden Nasenlöchern. Fein gewölbte Lidbögen, ein dunkelbrauner Blick. Der matte Duft seiner Nähe, sein Körper kannte keine Kanten. Er war sehr arm, an harte, körperliche Arbeit gewöhnt. Für die Familie, die Eltern, die jüngere Schwester. Ein par billige Schuhe machten ihm Freude. Er zeigte sie stolz. Er weinte lautlos um den kranken Körper, das Gesicht seiner Mutter. Er befürchtete ihr Sterben. Er führte eine meiner Hände, einzelne Fingerkuppen an seine Wange, um es mich fühlen zu lassen. Er liebte seine Mutter, dieser Sohn. Er hoffte darauf, studieren zu können. Das Militär gab ihm zusätzlich Gehalt. Er war Bosnier, ein Bosnier vor dem Krieg. Unter diesen Grillen, die nachher wahrnehmbar wurden zwischen den Pinien und etwas Gestrüpp, unsichtbar in der Dunkelheit nahe der Felsen war er es, anderthalb Tage lang, ein paar Stunden einer Nacht. Nach Deutschland zurückgekehrt, rief ich ihn nicht mehr an, obwohl er es gewünscht hätte. Er nahm dieses Mädchen aus dem vollen Saal mit, das sich beim Tanz hemmungslos gebärdete und sich abwandte in den Pausen zwischen den Musikstücken. Das ihn zuerst sah und einfing mit ihrem schnellen, scheuen Blick. Das Erschütterung in seiner Nähe verbarg. Rede doch, sagte er, und sie redete. Die Grillen zirpten, als sie sich setzten. Sie kannte noch keine Raffinesse. Er sah sie, bekleidet, aufmerksam und nervös. Sieh mich an, sieh mich genau an, noch genauer, sagte er. Er zeigte auf seinen Mund. Er zeigte auf seine Augen. Er zeigte auf sein Glied. Er nahm sanft ihre Hand, führte sie. Er war erstaunt über diesen Moment, in dem das Abenteuer aufhörte.
Meine Schwester unterbricht es. Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich kehre zurück. Sehe sie. Den Himmel. Die ockerbraune Fassadenmauer. Dahinter das Wasser dahinziehen. Ihre hellen, blauen Augen. Ihre schweren Lider, die ihre Augäpfel wie Jalousien bedecken, die kurzen, rötlich-blond vorstechenden Wimpern, dichte Pinsel. Den asphaltierten Boden. Ein weißer, beschrifteter Pappbecher liegt zerquetscht auf dem Bordstein. Eine Gruppe japanischer Touristen, die sich zwischen uns drängelt, um vorbeizukommen, in leuchtenden Shorts, mit schweren Photoapparaten behängt, die Frauen mit leichten schwarzen Lederhandtaschen, goldbestickt. Ich hätte sie jetzt küssen mögen. Ihr milchiges Oval. Ihren kleinen, gespitzten, blutleeren Mund. Die rostroten Töne flirrten im Sonnenlicht auf ihren Haaren und versahen ihren Farbton mit dem einfallenden Lichtstreifen direkt über dem schaukelnden Fluss. Wir waren schon in der Mitte der Brücke angekommen. Ich hatte es nicht registriert. Im Vertrauen auf die anwesende Gültigkeit meiner Schwester nichts mehr wahrgenommen außerhalb des Rückzugs auf die Bilder. Doch etwas hatte es automatisch für mich getan: Hupende Autos und ihre blecherne Farbe, das schubweise, mühsame Getöse einer Lastwagenkolonne, die Gemüsekisten transportierte, das Geschrei einer entzückten Frau mit ausgestrecktem Finger, der Anblick ihrer fließenden Gestalt. Es war das Farbenspiel des Wassers auf ihrem Rücken, des Flusses, des aufliegenden, blutorangefarbenenen Balls, der sich spiegelnd und schaukelnd hielt und in einer gleichmäßigen Bewegung aquarellfarbene leuchtende Schlieren in die flüssige, treibende Masse warf. Das Bild und wir konnten eins sein, bis auf ihren Arm, ihr herabhängender Arm materialisierte unsere Anwesenheit. Dieselbe goldene Farbe, die zwischen den formidablen Hotelreihen dem ehemaligen Stadtpalais das Gewühl in ein Muster aus abgestandenem Geruch nach Essensresten, überquellenden Abfalleimern und flatternden Röcken verfeinerte, ästhetische Illusionen ausmalend, schien auch das Gesicht meiner Schwester zu bestechen. Sie lächelte selten. Sie strich sich eine ihrer weißlich-blonden, wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht, mit einer einstudiert wirkenden Bewegung, für die ich sie hätte schlagen mögen oder an einem Arm zart über Haut und Flaum bis zu den Pulsadern streicheln. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, wippte auf und ab, ihre schmalen, langen Füße steckten in beigefarbenen Sandaletten. Ihr Mund näherte sich meinem rechten Ohr. In ihren Wangen erschienen zwei Grübchen, die sie als Kind verabscheut hatte. "Du bist nicht da, Mirjam", raunte sie und schnipste mit Mittelfinger und Daumen ihrer gesunden Hand vor meinem Gesicht herum. Ihre Stimme klang belustigt.
Sie war zwei Jahre jünger als ich. Sie war ein abgebrochenes Talent. Sie hatte nach einigen Arbeitsmonaten als Statistin zwei Rollen bekommen, die Rolle der Marie im Woyzeck und die Rolle der Penthesilea im Trauerspiel von Kleist, was in den Tageszeitungen der Stadt als eine kleine Sensation kommentiert wurde. Sie wurde eine kurze Weile eine disziplinierte Schauspielerin, trotz des kaputten Arms und ihrer Labilität. Am Ende der Vorstellungen sammelte sie Blumensträuße und einzelne rote Rosen ein. Vermutlich waren ihre Rollen, ihre Erfolge, ihr materieller Verdienst für sie Zwischenstationen, Pausenfüller. Sie nahm sie nicht ernst, meine Schwester. Ich bin nicht wichtig, sagte sie. Als wir unseren Vater wiedersahen, als sie Cordula verließ und damals in dem Messingbett, machte sie Ausnahmen. Nach der Saison verließ sie das Theater. Das Haus war meine Idee. Es sollte sie von der Straße wegholen. Von der Gefahr, obdachlos zu werden, Spielball ihrer Orientierungslosigkeit, ihrer Lüste, des Schnorrens, der drohenden Illegalität.
Unsere Mutter hing im Museum. Geöffnet von zehn bis siebzehn Uhr. Montags war Ruhetag, und sie blieb verschlossen. Sie trug ein Häubchen und eine Krause, ihr Gesicht war, charakteristisch für ihre Zeit, photogen herausgestochen aus der Bleistiftzeichnung, vorgewölbt der weiche, schon leicht verkniffen gespitzte Mund, den sie meiner Schwester vererbte ohne den dazugehörigen Altweibertrübsinn, dafür aber ihr Oval, das zum geschwungenen Holzrahmen passte, zusammen mit den Haarkringeln, die unter der sittsamen Haube hervorschrien. Jean-Auguste Dominique Ingres Montauban, 1780-1867 Paris, Bildnis der Susanne Eleonore Friederike, Bleistift auf Papier. Erworben 1957 mit Mitteln der Adolf und Luisa Haenser-Stiftung, Graphische Sammlung Dauerleihgabe von Adolf und Luise Haenser, einschließlich Schreibfehler. Wir besuchten ihr Antlitz mehrere Male. Als die Ausstellung abgeräumt war, ließ sich Sascha nur schwer davon abbringen, ein anderes Portrait zu suchen. Sie schleppte mich mehrere Male die Museumsuferstraße entlang. In diesem Jahr fanden wir kein vergleichbares Bild von unserer Mutter mehr.
(...)