Bräute des Mittags-Zyklus Teil I
(veröffentlicht) und
Teil II Andere Welten. Roman
(10 Kap. u. 30 Illustrationen in Arbeit s.u.)
und Rezensionen
sowie youtube-Video- Ausschnitt
seit 30.5.21 youtube-Film zur Literatur&Musiktag HR"2 "Bräute des Mittags", auch über Hanau Kulturforum
Roman, Mai 2021- Stationen: Budapest, Mariánské Lázne, Frankfurt/Hanau/Rheingau, Occitanie/Gruissan: Flucht durch Europa, Ankunft bei sich, untereinander... Sinnlichkeit und Familienschickal, Lebenswerte, einzeln und gemeinsam, Begehren mit seinen Irrtümern und Möglichkeiten
Stefanie Goedeke
Roman Bräute des Mittags
Fassung: 20 Kapitel
Inhalt:
I : Fahrt ins Nirgendwo, Nastasja
II : Blick zurück, Frankfurt und Taunus
III : Eine unvergleichliche Schwester
IV : Der Errettende, Budapest
V : Orientierung zwischen Romantik und Erotik
VI : Junge Wege und Irrwege
VII : Zwischen zwei Leben
VIII: Intensive Begegnungen, Hanau
IX : Geschwisterpaar im Tunnel, Marienbad - Mariánské Lázně
X : Heimkehr: Rhein-Main und die Liebeslust, Nastasja
XI : Wechselstimmen, Rheingauer Winkel und Klänge des Languedoc
XII : Die Occitanie, zwei Frauen und die Eifersucht
XIII : Nastasja und Thore, ein Philippsruher Akt
XIV : Abigael, Thomasz, Elena: Pays Cathare
XV : Debatte unter Pinien
XVI : Fortsetzung mit Zwillingen, Thore Baruch
XVII : Miranda, die Gruissanese
XVIII: Elenas Ritt
XIX : Familienkristalle rund um den Tisch
XX : Ava, auf ein letztes Wort
Personenverzeichnis Hauptfiguren:
Nastasja, auf freier Fahrt,
Ihre zwei Kinder: Elena, Thomasz
Elenas Freundin Abigael, Thomasz Liebe
Thore Baruch, Vater von Zwillingen: Elisa und Pinea, neuer Mann an Nastasjas Seite
Tante Ava, Schwester von Nastasja, ihrer beider Großtante Eva,
Miranda, Tante Avas Frau
Motti
„…ich kann mich nicht auf der lumpigen Mittelstraße herumtreiben und die halbverwelkten Blumen mit Mühe und schweißbedeckter Stirne aufsuchen, die dem seligen Glück in seinem Taumel entfallen.“
Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel
Nun ist der Himmel feuerrot, Zu ihrem Land die Tür.
Anna Achmatowa, Gedichte
Ist Liebe denn nicht tausendfältig? Ist sie nicht wie die Sonne, die alles bescheint? Muss Liebe knausern? Muss sie Einem alles geben und andern nehmen…? Ist sie nicht viel zu hold, zu groß, zu allumfassend?
Paula Modersohn - Becker 1902
Denn es gibt keinen Friedhof keines Volkes und keines Glaubens, darin nicht auch Einer der Unsern schliefe.
Theodor Lessing, Der Luftmensch. In: Der jüdische Selbsthass
Ich habe ein großes Bild gemalt, Modell halbnackt, Malerin die andere.
Lotte Laserstein, Brief an eine Freundin 1956
Was ist Realität? Tief in uns ist sie so schwer fassbar wie ein Traum, und wir sind keines Ereignisses sicher.
Anais Nin
Die Unvergessenen: Erik Zehner, Norbert Altenhofer , Annemarie Hintze und Sophia Lösche
Rezensionen
Schreiben über Erotik: Wie kann man frei sein, unabhängig und doch fraulich, weiblich?
Rezension aus Deutschland vom 31. März 2021
Müssen Autorinnen bzw. Autoren nach der teilweise verwirklichten Emanzipation der Frauen anders über Erotik, Sexualität schreiben? Dürfen und müssen sie nicht auch über Intimität und Tabus reden, über Scham und Schweigen? Gibt es ein Recht auf Sinnlichkeit, auf Lust bei selbstbewussten Frauen? Wie muss das in Literatur zur Sprache kommen? Brauchen wir Literatur, die das Recht der Frauen auf ihre Art der Erotik, auf Sinnlichkeit thematisiert – damit sich Wahrnehmung verändert, auch Selbstwahrnehmung, und Gewohnheiten sich wandeln? Welche Rolle wird dabei den Männern zugebilligt?
Kern der Romanhandlung ist, dass Menschen nicht aufhören können, das Begehren in ihrem Leben aufzusuchen, entweder direkt, heimlich oder in Ersatzbefriedigungen. Lust und Verbot, tabuisierte weibliche Wünsche, Wege und Irrwege des Begehrens sind individuelle, familiäre und politische Themen des Romans. Die Autorin rechnet ab mit einigen brutalen Männertypen und mit der Selbstmissachtung der Frauen.
In diesem ihrem dritten Buch beleuchtet Autorin Stefanie Goedeke aber auch die Rolle von Sexualität und Erotik im Abhängigkeitsfeldern, sei es in prekärer Umgebung oder beruflichen Verhältnissen und dem weiblichen Ausgeliefertsein, ihrer „Prostitution“ – etwa bei abhängig Beschäftigten wie im Literaturbetrieb selbst. Sie geht der Frage nach: Wo und wie entstehen Missbrauch, Gewalt, Selbstaufgabe, Ausbeutung?
Stefanie Goedeke webt das breit ausgefächerte Thema ein in eine stringente Rahmenhandlung um Elena, eine sehr junge, sinnliche Frau auf der Suche nach Abenteuern und um ihre Mutter, Nastasja Rosocha, die nach einem Gefühl des Scheiterns ihr Leben neu ausrichtet. Die Einstellungen zum Körperlichen bleiben divergent: dieser Generationenroman lebt auch vom Streit über Erotik versus Romantik und deren Einordnung: Sind Begegnungen sinnlicher und erotischer Art schicksalhaft oder bloß ein Moment in einem Schicksal?
Ein anspruchsvoller Roman. Er besticht durch anschauliche Metaphorik („Es fehlt der Luft an Zärtlichkeit.“ „Diese Wüste zwischen Mann und Frau würde wohl nie aufhören.“ „Eine Rutsche ins Nirgendwo.“), einfühlsame Bilder (Tanz als Vorwegnahme der geschlechtlichen Vereinigung), assoziative Verwebung zeitlicher Ebenen, Spannungsverstärkung durch Retardieren, Wechsel der Erzählperspektive (der Vorgang der missbräuchlichen Verführung aus Sicht des Täters und Opfers), Expeditionen in das dunkle Mysterium von Körper und Seele: eindringlich, realistisch, packend, mitnehmend. Und schließlich, bei Elenas Ritt, eine fast perfekte Harmonie von junger Frau, Pferd, Landschaft und Musik. Die Sprache und ihre detailreichen Bilder wirken mitunter sehr gewagt. Doch wie soll man sich der Thematik des Körperlichen nähern, ohne das dabei Erlebte bis in letzte, intime Details zu schildern? Endlich wurden diese Fragen in das helle, sonnige Licht des Mittags gerückt (Titel), ans erfrischende Meer, in die Düfte von Lavendel und den Gesang der Zikaden.
Elenas Fragen zielen ins Zentrum des Menschseins. So auch dieser Roman als Ganzes. Absolute Leseempfehlung. Am Ende steht nicht weniger als ein vielleicht neuer Zugang zur Ausgangsfrage: Wie können Frauen frei sein, unabhängig und doch fraulich, weiblich?
Berührend, empathisch und sprachlich sehr kunstvoll
Rezension aus Deutschland vom 17. Mai 2021
Dieser neue Roman von Stefanie Gödeke ist in seiner sprachlichen und inhaltlichen Vielfalt ein bemerkenswertes Werk.
Themen wie Weiblichkeit, deren Auslebung und Gestaltung, Ausbeutung aber auch Liebe in ihrer vielfältigen Gestalt
sind die Säulen dieses Romans, verbunden mit großer Sinnlichkeit in unterschiedlichen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen. Hierbei zeigt sich die Autorin wieder sehr empathisch in der Gestaltung der Charaktere, dabei sprachlich sehr virtuos, einige Beschreibungen erinnern in ihrer realen, naturalistischen Art an den Stil von Zola, andere sind sehr lyrisch und fast schon hermetisch. Hier zeigt sich die große Begabung der Autorin, Sprache zu Kunst werden zu lassen, sie als Instrument vielschichtig inszenierter Begebenheiten zu gebrauchen und das mit sehr viel Tiefgang in unterschiedlichen Handlungssträngen. Kein einfaches Buch aber für den literaturbegeisterten Leser/Leserin eine wirkliche Erfahrung. Klare Leseempfehlung dafür und auch schon eine Vorfreude auf die Fortsetzung, die hoffentlich bald folgt....
Literatur, die nachwirkt
Rezension aus Deutschland vom 17. Mai 2021
Auch dieser Roman von Stefanie Gödeke befindet sich sprachlich wie inhaltlich auf sehr hohem Niveau. Die verschiedenen Erzählstränge sind von literarischer Raffinesse, die unterschiedlichen Themenfelder bewegen sich außerhalb der Komfortzone und verlangen den Leser*innen auch manches ab. Aber wie sollte dies anders sein, wenn u.a. über frauenunterdrückende Systeme geschrieben wird? Wie sollte man beschönigend über Prostitution schreiben, ohne Gefahr zu laufen, diese Thematik zu verharmlosen? Wie sollte eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Tabuthemen erfolgen, ohne diese konkret zu benennen? Letztlich würde all das an der Oberfläche haften bleiben und im Mainstream untergehen. Und deshalb braucht es Autorinnen wie Stefanie Gödeke, deren Literatur sich nicht in gängige Genres zwängen lässt, deren Werke nachwirken und zur Reflexion anregen.
Wie in ihren vorangegangenen Romanen lässt die Autorin auch in ihrem aktuellen Werk die Leser*innen tief in ihre Figuren eintauchen, sodass deren Inneres erfahrbar wird und sich jene unweigerlich mit diesen identifizieren können. Das gelingt ihr vor allem durch die einfühlsame, präzise und treffende Beschreibung der Charaktere sowie der äußeren Umstände, seien es die Schauplätze oder auch historisch und politische Hintergrundinformationen.
Vor allem Elena, die in das Prostitutionsgewerbe rutscht, ist so gestaltet, dass ich als Leserin nicht umhinkomme, mit ihr zu fühlen, im Positiven wie im Schlechten. Wenngleich Elena zerbrechlich und auch kaputt zu sein scheint, schafft die Autorin es dennoch, ihr Stärke, Energie und Kraft zu verleihen. Trotz ihrer Schicksalsschläge gelingt es Elena, wieder aufzustehen und aus der Abhängigkeit heraus in ein Leben in Freiheit zu reiten. Genau das gefällt mir an Stefanie Gödekes Literatur: die Figuren verharren nicht in ihren Krisenmomenten, ihnen gelingt es, ihre Traumata zu überwinden und zu neuen Ufern aufzubrechen.
Aus diesem Grund kann ich nur dazu aufrufen, diesen – wie auch die anderen Werke der Autorin – zu lesen!
Bräute des Mittags Teil I
Kapitel I , Fahrt ins Nirgendwo, Nastasja
Erzählbeginn (Ausschnitt)
Das Foto hatte sie sich auf die rechte Seite der Windschutzscheibe geklebt und immer, wenn sie sich einen Blick darauf erlaubte, sah sie eine andere Zeit an. Das war nur zu Anfang der Reise zweimal der Fall gewesen, jetzt schien das Auto zu schlafen, während es quietschte beim Abbremsen. Es war zum Verbündeten der eigenen Lebensmüdigkeit geworden. Es ächzte noch einmal, ruckelte und blieb stehen. Sie hatte vergessen Benzin nachzufüllen, und sie hatte die Orientierung verloren. Aber im Kofferraum lag unter alten, ehemals teuren Wollpullovern, in Alufolie und Plastiktüten verpackt, ein großer Kanister, den sie zur Sicherheit gefüllt hatte. Das war vor zwei Wochen gewesen, und seitdem hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, mehr als ein Fenster hin- und wieder zu öffnen.
Sie, das war sie, Nastasja Rosocha. Der Name einer Frau, nicht mehr als ein Schriftzug. Den hatte sie beim Ausfüllen der Papiere zum Leasen des Fahrzeugs kaum wieder erkannt. Durch das Fenster wollten sie ihr zusehen, diese Verrückten, denen sie davon gefahren war, ob sie tatsächlich ins Innere gemacht, sich entleert hatte oder nicht. Ob sie sich selbst befriedigte oder nicht. Verwahrlost war, tatsächlich, in Gedanken oder nicht. Diese Gesichter passten zu den Menschen, die sie gern für immer hinter sich gelassen hätte. Da stehen sie immer noch, sie sieht sie in ihrer Vorstellung und Einbildung, und sehen sie ihr etwa zu, wie sie ihnen davon fährt? Wer sähe aber wen an? Würden sie es wagen? Wenn sie nun das Fenster herunter gekurbelt hätte oder es jetzt tun würde, sähe sie noch jemand von ihnen, etwas? Sie begegnet immer dem Widerhall der Welt, aber sie tritt nach ihm. Fast eingeschlafen vorhin über dem Lenkrad, so etwas darf nicht mehr passieren. Bisher hatte sie auch die Tüten mit Ausscheidungen, so gut es ging, aus dem geöffneten Fenster während des langsameren Fahrens geworfen. Etwas ist immer hängen geblieben, und sei es der Geruch. Ihre Wasservorräte hatten gereicht, nachzusäubern, ihre Stimmung ließ es zunehmend stinken. Die Pappbecher voll Urin kippte sie einfach durch den Schlitz, während die Scheibe schon gegen den Luftwiderstand hochfuhr. Den Komfort hatten Obdachlose nicht.
Ihr Blick fiel auf das Foto. Sie hatte es wochenlang missachtet. Sie hatte es tatsächlich nicht mehr wahrgenommen, und wenn sie es gestreift hatte bei einer Bewegung ihrer Augen, mit einer Geste, in seine, des Bildes Richtung, war sie über es hinweg gegangen, das bloße schimmernde Papier, schnell, bewusstlos und es aus ihrem Blickfeld ausblendend. Früher hatte sie Fotos gewechselt, eines in jeder Woche, bestenfalls hingen sie mit Sonderstatus auch zwei Wochen oder drei Wochen dort. Es war ein Foto von ihm, von ihm über sie, aber nicht von ihr, mit ihr hatte es nichts zu tun. Sie, das war sie, die Mutter. Sie hatte einen Sohn und eine Tochter. Sie waren Geschwister, Schwester und Bruder, ein Geschwisterpaar, so verbunden einander wie ein massives Gebirge mit seinen höchsten Gipfeln und Scheitelpunkten. Er war der Berg und sie das Tal, sie war der Weg, er gab die Ränder dazu. Manchmal trat er auch auf wie ein Zeichen, und sie ging am Wegrand und sah ihm zu. Dann nahm sie ihre eigene Spur und war im Dickicht seiner Gedanken verschwunden oder ihrer Worte oder in ihrer Erscheinung. Und er sah ihr nach, sah ihr ähnlich, warf einen Blick auf die Mutter und schoss hin und wieder ein Foto wie dieses.
Drei Ärmel und ein Zwicker, durch den dritten, kurzen Halsärmel schlüpfte er gern mit dem Kopf. Seine Schwester trug ebenso gern, das war ihre Marotte, geringelte Socken, die an der Fessel bis auf den Knöchel herunter rutschen durften, ohne dass sie sie wieder hochzog. Manchmal tat er das für sie, nahm den Zwicker, seine Marotte, ab, weil es ihn störte, wenn sie unordentlich aussah. Mit einer schnellen Bewegung bückte er sich und zog mindestens einen der Socken halb hoch. In der Öffentlichkeit schüttelte sie nur unmerklich, aber unwillig den Kopf, sodass ihre Haarspitzen wippten, im häuslichen Bereich trat sie nach ihm, knapp an ihm vorbei in die Luft, oder drehte den Fuß um 90 Grad nach innen. Sie konnte das mit ihrer Gelenkigkeit, sie war wie eine zarte Gummipuppe manchmal, so biegsam und schön wie der Mittag, wenn das Haar der Frauen und Mädchen leuchtete, weil die Säume zwischen ihren Strähnen sich dem Schein der Sonne öffneten und ihren Schein mit Glanz auffüllten. Er nahm dann seinen Zwicker ab, ein Erbstück seines Großvaters.
Er sah diese Gummipuppe manchmal zwischen den Knien seines Onkels verschwinden. Er hatte dieser Verwandlung seiner Schwester von einem unfassbar zarten Mädchen in eine Gummipuppe wie im Taumel und unter Zeitlupe zugesehen, die aus Augen und Mund und der Verbindung zwischen beiden bestand, ohne sie zu begreifen, hatte lautlos ihre Rückverwandlung in das ihm vertraute Geschöpf wahrgenommen in nebligem Grauschleier, der sich im Kinderzimmer verdichtete. Er sah diesem Schleier zu, der sich langsam um sie herum ausbreitete, bis sie den Kopf zu ihm wendete, ihre Arme hob, um ihr Haar neu zu binden oder ein strähniges Haarbündel nach dem anderen in ein fein geflochtenes Zopfmuster zu verwandeln. Das lichte Haar fiel als Kranz um ihr Gesicht, wie eine Kappe rundete es es als Botschaft der Unschuld, der Reinheit, der klaren, schmerzhaften Seelenlosigkeit ihres Tuns.
Wenn sie ihr weißes geknöpftes Nachthemd trug, wusste er, warum in der Verfilmung von "Der Herr der Ringe" die Feen aus dem Wasser empor tauchten oder mit Dunst von weißer Leuchtkraft über dem Gehölz schwebten. Was er nicht wusste, war, wie ihre Bedeutungslosigkeit in ihrer Gestalt aufging, wie ihre Lust, sich zu beugen, mit ihrem Haar verbunden war, wie ihre Angst, ein lebhaftes Wesen zu sein, gefangen war im Anblick von anderen, dem Schein vom Angesicht einer unendlichen Kette von Augenblicken, die sie, von ihrer Ausstrahlung betroffen und ausgehend, dazu brachte, sich im Badezimmer zu verstecken. Die sie auf der Straße wandern ließ unter den begehrlichen, meist männlichen Augen, den sie taxierenden, fixierenden, sie erschreckenden, sie ins nackte Dasein stoßenden, durch Übergriffe auf ihre Haut und Entblößungen, die im Alltag allgegenwärtig waren. Im verschlossenen Badezimmer dagegen war sie sich selbst gegenwärtig, auch ihm, unmittelbar und einfach und selbstverständlich auch nackt, aber frei. Auf der Straße sah man sie laufen, man sah ihre Beine, ihre Muskeln, ihren Po, ihre Schulterblätter, überschüttet immer wieder von Blicken, angetastet bis zum Nacken, der steif wurde statt biegsam, bisweilen, wenn es hupte, hinter ihr oder vor ihr, von der Seite gierig eingenommen.
Später war die Spanne zwischen dem Foto und der Jetztzeit kaum noch wiederzuerkennen für Nastasja. Drei Generationen lagen dazwischen oder vermischten sich in dieser Zeit mit- und untereinander. In Liebe und in Hass. Und im Verlangen nach beidem. Und die Münder und die Arme der Verwandtschaft kommentierten und umschlungen sie. Und je fester sie zupackten, die nicht wenigen Verwandten, die immer etwas wollten, desto mehr quoll aus dem Foto die Spanne der Zeit, wurde die Fülle zur Leere eigener Empfindungen. Und empfindungslos, bis auf die Gier nach Leben, lag die Straße da nun vor Augen, die Straße, die sich in der Spanne zwischen der Entstehung des Fotos und der Jetztzeit öffnete und ihren Kot preisgab, ihre nackte Seele, ihre Bereitschaft, alle und alles, was es zu ihr geschafft hatte, aufzunehmen und wiederzugeben. Und hinter der Straße öffnete sich ein Netz verzweigter Nebenstraßen, ein Landkartengedächtnis voller Verwandtschaft. Aber wer hätte sie danach gefragt, als sie ins Auto gestiegen war? Niemand. Die Straße war leer gewesen, als sie losfuhr, bis sie zu dieser Tankstelle gekommen war, mit den Verrückten, die sich Menschen nannten. Als sie den Kanister füllte, drehte sie ihren Kopf, um ihren Blicken zu entgehen. Ungläubig erst, dann widerstrebend sah sie ins nächst gelegene Auto am anderen Straßenrand.
Der Mann war dick und unansehlich. Er hatte die gedrungene Gestalt, aus der Wurstfinger erwachsen. Einen fetten Bauch, der jede Schwangere übertraf. Er hatte ein weichlich erschlafftes, massives, von einer klobigen Stirn besetztes Gesicht und der Intelligenz nicht entbehrende, wässrige Glubschaugen. Sie hätte schwören können, seine Alkoholfahne bis in ihr Gedächtnis hinein riechen zu können. Einen an den Seitenschlägen aufgetragenen Anzug trug er, darunter ein weißes, fast aufgeplatztes Hemd über dem Bauch. Die beginnende Glatze tat ein übriges, seine Wabbeligkeit zu unterstreichen. Sie dachte kurz an den Nibelungenring, an den neiderfüllten Alberich und die Rheintöchter, diese hässlich-grässliche Fratzenhaftigkeit als Spanne zwischen Mann und Frau, die einer zerstörten Wüste gleichgekommen wäre, würde sich nicht das junge Mädchen, das der Figur nach ihrer Tochter glich, geschickt auf ihm bewegen. Sie sah nur ihre nackten Beine und das lange Haar und seinen zurückgelegten Kopf mit wulstig verzerrten Lippen. Er knetete ihr mit einer Hand, den Arm gestreckt, am Hals herum, es sah von weitem aus, als wenn sein Daumen ein Loch in ihre Kehle drücken würde. Dann fasste er sie an den Haaren, rötlich-braun schimmernde, glatte Haare, sodass ihr Kopf zur Seite schwenkte, und sie wurde mit einem Ruck auf den Nebensitz geschubst. Sie war verdeckt, während er sich über sie beugte, zum Handschuhfach langte, dann hatte er Geldscheine in der Hand. Er hielt inne, sein Körper schüttelte sich von Bewegung, sein Kopf lag kurz an ihrer Schulter, die junge Frau schaute aus dem Fenster. Wieder konnte man von weitem nicht viel und nur ungenau erkennen, ob gesprochen wurde, wusste sie nicht. Sie sah nur ihr herabhängendes Haar und seine fette Hand, die das Knie tätschelte. Dann stieg das Haargeschöpf auf der anderen Seite des dunklen Wagens aus, fischte, sich bückend, ein paar Damenschuhe vom Boden. Fast ohne Gruß ging sie davon, im kurzen Rock und bekleidet von Haar, das schmale Gesicht. Sie ging sehr schnell und achtlos, zeitlos und wie ein Körper, der sich mit der Straße verleibt. Sie wollte das nicht gesehen haben, es kam zu plötzlich. Der Mann saß für einen Moment wie betäubt, fast bekümmert, aber eher um sich selbst, und wischte sich irgendwelche Spuren oder Krümel vom Anzug. Ihr wurde kurz übel von diesem Anblick. Sie brauchte diesen Kanister voll Benzin, das war alles, und nicht diese Plötzlichkeit, und doch fuhr das Auto immer dorthin, wo die Welt noch nicht aufgab zu sein, was sie war.
Sie hatte über Gebühr an diesem Vortrag gearbeitet, den sie ursprünglich einbauen wollte in die Vorlesung, die sie hätte halten sollen auf eine externe Einladung hin, aber nicht mehr halten wollte. Das Papier lag jetzt zusammengeknäult auf der Fußbodenablage des Beifahrersitzes, und sie hörte Leonard Cohen dazu. Zerfetzt lag der Entwurf des Vortrags da, in Schnipsel und zerrissen als Papierstücke in Einzelteilen. Darüber war sie tief befriedigt und belustigt, wie sie immer wieder bei sich feststellte, ohne sich zu wundern. Lucinde, dachte sie, ein Buchtitel und ein Programm, das ist lange her…
"Sie trafen sich auf dem Hofgut Trages, um Goethes Antlitz im Nebenbau an die Wand zu malen, am Günderodehäuschen die rankenden Rosen zu bewundern. So berichtet es Bettina von Arnim, nachdem ihre Schwester Kunigunde Friedrich von Savigny geheiratet hatte und die Dichterin und Freundin Karoline längst tot war. Das bestätigte Hubertus von Savigny in einem Interview. Er hatte im 21. Jahrhundert mit einer Golfplatzidee das angetretene Erbe in Somborn zur ökonomischen Ertragslandschaft umgestaltet. Niemand dagegen kann bestätigen, dass in Hanau sich der kleine geschlossene Freundschaftskreis der Romantiker, des städtischen Industrieproletariats überdrüssig, gemeinsam auf das Wasser zu bewegte anno 1816, einmal in meiner Vorstellungswelt, und in dieser frühen, ihrer Zeit.
Sie wollten einige Seiten aus der Lucinde lesen von Friedrich Schlegel und sich gegenseitig aushorchen, wie Frau und Mann sich ähneln könnten und wie weit sie damit gekommen seien. Dabei wirkte Clemens Brentano verdrossen, die Grimms, aus Kassel kommend, besonders Jacob, stur, und der vierte im Bunde, Carl von Savigny, ließ sich per Eildepesche entschuldigen. Der fünfte, Achim von Arnim, war bewegt vom Gedanken an seine junge Frau, die, bei der Schwester Gunda verweilend, er sich zu zähmen vorgenommen hatte. Ihr lauterer Sinn, von einer Kindheit im Frankfurter Geschäftshaushalt geprägt, widersprach der Stille der protestantisch-märkischen Kargheit, in das Wiepersdorf eingebettet lag. Das deutsch-italienische Temperament vom Comer See der Brentanoseite stammend, florierte dagegen immer: Man fliege „nur mit Anstrengung über die Gegenwart“, schrieb sie und wollte nach Berlin zurück. In Briefen an ihn war er zwar der liebe seidne Leib, wie auch sie für ihn, aber Rahel Varnhagen bekam anderes, Klagenderes zu hören. Goethes Kritik an den fratzenhaften und karikaturartigen Übertreibungen ihrer Bemühungen ficht sie nicht so sehr an wie die neue Umgebung, Achim weiß es.
Sie gingen am Ufer unterhalb des Schlosses entlang und sahen das Wasser strömen, es hob sich dunkel ab vom Schein des Steins, der über ihnen emporragte. Den Staat zu beseelen mit Licht und Poesie, ,,die Sprache, der Geschichte Widerschein als kulturrefomerisches Ansinnen in den Mund zu nehmen und auf das Papier zu legen und daraus Trost und Hoffnung auf Zukunft zu machen, erschien ihnen klar und hell wie die vormittägliche Sonne. Bräute des Mittags kamen aber keine vorbei. Sie versicherten sich ihres lebensphilosophischen Glaubens über den Sinn der geschlechtlichen Vereinigung: Wer Fantasie hat, kann auch Fantasie mitteilen, und wo die ist, entbehren die Liebenden gern, um zu verschwenden; ihr Weg geht nach innen, ihr Ziel ist intensive Unendlichkeit, Unzertrennlichkeit ohne Zahl und Maß; und eigentlich brauchen sie nie zu entbehren, weil jener Zauber alles zu ersetzen vermag. Die vier Männer wichen höflich, fast scheu, den zwei Leinreitern neben ihnen aus, die den Treidelpfad entlang des Philippsruher Schlosses passierten, und die das Schiff mit seiner mehrtonnigen Beladung zu ziehen hatten, vom Mast hing die Leine lang und ihre Messer zum Kappen im Notfall steckten im Gürtel. Diese hier, das wussten sie, hatten zwar nichts gemein mit dem Leben der Sträflinge und ausrangierten Unterschicht, die die Schiffe kilometerlang zu Fuß und in Lumpen zu ziehen hatten, dem Glitzern des Flusses gleichgültig preisgegeben. Aber sie waren auch nicht wie einer von ihnen.
„Vor mehr als 25 Jahren“, sagte Achim von Arnim, „lernte nicht nur Goethe ohne herkömmliche sinnliche Begabung diese Fantasie lieben, die so notwendig unser Leben bestimmt.“ Jacob schnaubte und warf Kieselsteine ins Wasser. „Das Unbestimmte, Weibliche ins Grenzenlose“, das “vollendete Bestimmte sich selbst männlich verfeinernd in Selbstbeschränkung und schöner Genügsamkeit“ zitierte er Schlegel, “aber wie sieht der Alltag aus? Zumindest meiner? Und der voreheliche von der Vulpius?“ Das individuelle Allgemeine sei so unvollendet wie der Staat, fügte er hinzu. Achim schüttelte den Kopf: “Du hast Dich sehr verändert seit einiger Zeit! Sieh dich vor, Freund, dass der Sinn für das Große Dir nicht abhanden kommt, eh Du es gewahr wirst“, entgegnete er spöttisch. Sie blickten hinüber zu den vielen Zimmerfluchten und ihren hohen, waghalsigen Fensterfronten. Das Wasser klatschte und schwappte ans Ufer und Wilhelm mischte sich mit leiser Stimme ein: „ Es wird jedes Mal neu gelebt. Auch neu belebt. Wir erfahren es und die nach uns kommen. Und es gibt Fremdes unter Gleichem. So wird es sein. Es war einmal eine Familie, die lebte in einer anderen Welt…“
Sie gab zu, das war nicht der klassische, müde Hit, den die Studentinnen und Studenten mit Recht im 21. Jahrhundert als Power-Point-Vortrag erwarteten. Das war das Gegenteil vom Jetzt. Von ihrem augenblicklichen Zustand. Sie war nass, stellte sie fest, wie eine räudige kleine Wildkatze. Eine Offenheit, mit feuchter Weichheit gepaart. Sie verstand ohnehin nicht, warum diese Katzenkalender, von Frankfurt kommend, so Furore machten beim Publikum. Natürlich mit Sinnlichkeit, Eleganz und Schnurren am Band, Elektrizität, die nicht zu sehen war, aber ästhetisch als Schwingung des Räkelns transportiert wurde. Ihre Katze, die nun eine Weile ohne sie auskommen musste, hatte zu ihrer Zeit, vor der Sterilisation, gierig und verlangend und durchdringend schreiend das Hinterteil ausgestreckt, um von irgend einem daher gelaufenen Kater genommen zu werden. Bei Sarah Kirsch hatte sie auch von dergleichen nichts gelesen. Sie war dann ein ebenso gieriges Muttertier geworden, hingebungsvoll und abgemagert ihre drei Kleinen säugend, und Vögel und Mäuse lagen blutig geköpft im Garten herum. Es war also besser den Motor wieder anzulassen.
Kapitel II:
Blick zurück, Frankfurt und Taunus (Ausschnitt)
Man hatte seine Schwester an einer Straßenecke gefunden, ein Frauenkörper mehr oder weniger. Man hatte Elena singen lassen, vorher und nachher auch noch. Sie hatten sie fast zerquetscht und mehrfach in allen vorhandenen Löchern, wie sie das nannten, gestopft. Wie eine Gans. Er nannte das vergewaltigt. Sie hätte es herausgefordert, sagten sie. Thomasch hatte ihnen alles Geld gegeben, das er bei sich trug, um sie mitnehmen zu dürfen. Einer von ihnen ging noch mit zur Bank, um gelassen an der Straßenecke davor zu warten. Er hatte dann seinen fünfstelligen Dispositionsrahmen für die Schwester verausgabt. Er wusste, ein Wort über die ganze Sache, und er hätte nichts mehr für sie tun können. Das ging jetzt in seinem Kopf herum. Elena war gerade erst volljährig, und als er sie mit dem Taxifahrer zusammen auf die Rücksitzbank halb schleifte, halb bugsierte, ohne ihren blutigen Kopf zusätzlich zu verletzen, weinte er nicht. Er schmierte auch den Taxifahrer. Er kannte dieses Land.
Er dachte auch an seine Mutter. An den Abschied: schwarz auf weiß. An ihren Jugendfreund, der immer wieder versucht hatte sich zu erhängen. Von seinem Tod hatte sie früher oft gesprochen. Er dachte an ihre Sensibilität, die er hier auch in seiner Schwester wieder fand. Aber ganz anders. Er wusste auch, dass Elena unter dem Arbeitsdruck der Mutter gelitten hatte. Dass der Liberalismus, mitsamt des wortgewaltigen Linksliberalismus, eine Fassde des kapitalistischen Betriebs war, eine Marktwirtschaft, ein Pressewesen mit Innen- und Außenansicht, die auch ein Sargnagel für ein Kind sein könnten. Dass seine Mutter über französische Chansons an einem Sonntag über Nacht hatte arbeiten müssen, obwohl Elena mit elf Jahren eine akute Nierenkolik bekam, der nur mit einer Not-OP nach Blaulichtfahrt abzuhelfen war. Das zuständige Kinderkrankenhaus wunderte sich über ihr, Nastasjas, Ausbleiben und als sie abgehetzt ankam, hatte sie den Artikel bereits gemailt. Nachts fertig gestellt, anstatt am Bett ihrer Tochter zu sitzen. Eine zuständige Chefredakteurin des Rhein-Main-Ressorts hatte auf ihre Bitte hin auf die wartende Schlange von arbeitssuchenden Mitarbeitern verwiesen: Nastasja schilderte Elenas Not und die zuständige Chefin schrie ins Telefon: Das interessiert mich nicht. Das Argument krankes Kind war keins. Er sah das Auto, wie sie es ihm beschrieben hatte nach diversen Recherchen, er sah, wie es kippte beim Fahren, sodass die Räder quietschten und brannten, er sah, wie sie sich an den Straßenrand drückte und die Fenster aufgerissen wurden von wildfremden Leuten im Dunkeln, die sie aber nicht beschützen würden. Er sah sie die Ermittlungen, die auch seine Biografie betrafen, fallen lassen, in einer Stadt wie Frankfurt. Er sah sie Angst haben um ihn und seine kleinere Schwester. Er kannte sein Land und diese Stadt wie den Geheimdienst, diesen oder jenen Europas.
(...)
So war seine Mutter, dachte Thomasch etwas melancholisch. Sie glaubte noch daran, dass sie auf sie hören würden. Damals wie heute. Aber das Ersparen war nicht Elenas Sache. Das Familienthema war nicht neu, dachte er, während er den Körper seiner Schwester wusch, so gut es ging. Er hatte einen Arzt gerufen, denn sie blieb bewusstlos, und er wusste nicht Bescheid über Knochenbrüche. Und die Romantik war out bei jungen Leuten, nur die bildgewaltige Neoromantik mit schwarzem Touch konnte etwas bewegen. So der "Herr der Ringe". Er kannte das. Obwohl er auch jung war, nicht einmal 25 Jahre alt. Ob in Hanau oder Frankfurt oder Budapest oder Narbonne. Hatte sich viel geändert bei den Männern? Und die Frauen von Toulouse, die Simon IV. de Montfort, dem Katharerverbrenner aus Béziers und Carcassonne entgegentraten, indem sie halfen, ihn 1218 durch einen Steinschleuderschuss zu töten, waren heute, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, in der Minderzahl. Solidarität untereinander Fehlanzeige. Sie drückten einem ihre Visitenkarte in die Hand, die Frauen ebenso wie die Männer, die Juden und die Christen und die Moslems, machten etwas aus mit den Worten „sehr gern“, und dann kam unhöfliches Schweigen. Der Arzt musste auch geschmiert werden, er war ein armer Atheist, der es nötig hatte, im Milieu zu helfen, und dazu musste er möglichst unbemerkt in die Andrássy út 60, denn dort hatte er bei einer Freundin vorsorglich für den Notfall ein Päckchen deponiert. Auch wenn sie keine Ungarn waren, kannte er sich aus in dieser Stadt. Er musste dann in den Bezirk VII weiter, europäischen Tourismus nachahmend, ins Café Fröhlich. Er würde seine Schwester in den Süden Frankreichs bringen. Ein einziges Mal würde er auf den Spuren seines Vaters wandern, konnte dieser etwas nachträglich für ihn tun, für ihn und Elena und seine Mutter. Und es musste alles schnell geschehen, denn Elenas Kopfverletzungen bereiteten ihm die größte Sorge. Es gab überhaupt noch keine Frau in seinem Leben, die ihm mehr bedeutete als sie. (...)
Kapitel IV: Der Errettende, Budapest...
Aber schnell ging überhaupt nichts. Elena musste in eine Klinik und da es unvermeidlich war, musste es eine Privatklinik sein. Das kostete nicht nur ein Vermögen, sondern ihn auch die größte Mühe. Er verkaufte also seinen Aktienbestand weit unter Wert, und selbst das war alles andere als einfach. Es war eigentlich geradezu unmöglich, da er nicht auffallen durfte und er musste dazu auf einer Haupteinkaufsmeile in Budapest mehrfach Station machen, und nahm die von sanierten Altbaufassaden und prachtvoller Rückspiegelung strotzender Menschengruppen belebte Rákóczi út, um digitale Netzwerke bedienen zu können. Das eigens angemietete Zimmer war zwar möbliert, mit einem biedermeierlichen Dekor und Neostuck versehen, aber hier waren die Anschlüsse defekt...
Bräute des Mittags -Zyklus, Teil 2 Andere Welten (Auszug)
Varianten der Ein- Mehr- und Zweisamkeit (Partitur)
Gier und Echo (im Leben)
Andere Welten. Roman
für
Momente an dieser und jenen Tankstelle mit dem fliegenden Holländer (Kap.VI Schnabelewopski), darunter einem lebenslänglichen, für Abrahams Nachkommen und meine
und für S.
1.Kapitel
I
„Es gibt eine Zeit des Daseins und zwei Nichtzeiten, eine Zeit des Lebens, ein Etwas vorher und vielleicht etwas nachher. Das sagen mindestens die Agnostiker unter uns. Zwei Existenzen, in denen man nicht bewusst vorkommt, vielleicht nicht existiert. Wer weiß das? Der Glauben ist eine Antwort darauf. Gelobt seist Du. Aber an was glauben? An die Macht? An das Ewige? An den Moment? An die Melodie, die Schrift, die Bilder? An die Gemeinschaft ? An den eigenen Körper, die Sinne? Oder das Gefühl, die Sehnsucht? Doch an die ebenso allumfassende Natur wie die allumfassende Vernunft? Das Nichts da draußen?“
Es lag etwas Spott in seiner Stimme. Sie kam von weit her, er hörte sich kaum zu. Er schob seine Hand in die Hose. Die Haut oberhalb seines Bauchnabels fühlte sich warm an. Er hatte die ganze Zeit Lust dabei, in sie einzudringen, in die warme Höhle zu gleiten, sich tief in ihr zu bewegen, zu verharren und das Gefühl, zu zweit zu sein, nicht mehr loszulassen. Fast war ihm, als könne sie das fühlen am anderen Ende der Welt, wo sie gar nicht war, aber fern von ihm jedenfalls, zu weit weg für sein Gefühl. Er seufzte. Sie saß bestimmt da und konnte es fühlen mit ihrem tiefen Gang, dass er sich nach ihr sehnte, sich verzehrte in Gedanken an ihre Haut und ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihren Duft und ihren Anblick. Ihre Stimme fehlte ihm auch. Er kam sich vor wie ein Trottel, so zerrissen zwischen seinen grüblerischen Gedanken und seinem Verlangen, das ohne Echo blieb. Aber warum sollte eine Person, die mitunter als ungeschickt und einfältig in ihrer Intelligenz galt, auch über die Abfälligkeit hinaus, mit der man sie betrachten mochte, sich wie ein Spielzeug um sich selbst drehen und dabei Wunder bewirken oder betrachten können? Er sah sich jedenfalls gerade so, obwohl er wusste, er war seltener so, als er jetzt dachte.
Er ließ das Sprechzeichen des Whatsappkontakts los, ohne sich richtig verabschiedet zu haben, er kam sich jedenfalls falsch dabei vor, es hörte sich alles fahl an, was er sprach, sein Handy legte er mutlos auf den Tisch. Was sollten ihm auch alle anderen. Obwohl dies ja ein guter Freund gewesen war, der ihn gerade nicht verstand. Es war noch früh am Morgen. Vielleicht zu früh für ein gutes Telefonat. Er kannte auch Nastasja noch immer zu wenig. Sie stand ja schon seit ewigen Zeiten im Tanaach, Schemot, 35 ,15-32,: „Und alle Frauen, deren Herz sie trug in Kunstfertigkeit“ war von Anfang an dabei, nicht zu übersehen, für einen wie ihn nicht und die anderen Männer auch nicht, so, wie sie die Männer ansah und betrachtete, konnte man froh sein, dass nicht gleich ein Krieg unter ihnen ausbrach… alle Frauen, deren Herz sie trug in Kunstfertigkeit… und die ihr Herz sie trieb zu bringen… großartig, aber wohin bringen oder wem? Das war eine gute Frage. Was brachte sie ihm ein? Nichts als Ärger, Wirrnis, abgesehen von einem müden, gequälten Lächeln und dieser Sehnsucht. Oder war das Hoffnung auf mehr als Begehren? Schma´Israel, adonai elohenu, adonai echad. Gesegnet seiest Du, unser Land und Gott…Sie wartete ständig darauf, dass aus den Augen der Männer dieser Satz leuchtete, von dem sie sich dann einfangen lassen wollte, einzigartig, doch unter allen anderen gleichauf, also mit ihnen: Auch setze ich meine Wohnung unter euch, und ich will euch nicht verschmähen, sagte sie langsam und leise vor sich hin, wie zu sich selbst, wie für alle um sie herum, in seiner Erinnerung tat sie das immer öfter, mit ihrer Mischung aus Glauben und Zweifel. Nicht nur das Angesicht von Moshe konnte dadurch gesehen werden, dass die Haut des Angesichts von ihm strahlte. Ihre Hände wollten auch andauernd Haut, Volumen, Muskeln und Körpermasse sehen und streicheln und wie angezogen sein, hier von dem Angesicht eines Mannes. Und das nicht einmal beliebig. Er wusste es ganz genau, wie sie war, und das war auch sehr oft unwiderstehlich, aber dabei konnte kein Alltag stehen bleiben. Thore Baruch, ermahnte er sich im Sinne seiner Eltern, das war sein Name, nur, dass er hieß wie er hieß, half ihm jetzt auch nicht weiter. Er schüttelte über sich den Kopf. Er konnte sie schlecht erst mit in eine Synagoge nehmen, dann in eine Kirche mit ihr gehen und ihr dann den Kopf verdrehen. Sie mochte nur sehr wenige Kirchen und nicht jede Synagoge gefiel ihr und selten eine der monumentalen Moscheen. Sie rieb ihre Füße an seinem Leib, unmerklich, fein und leise, darinnen zu wohnen, in einem gemeinsamen Leib. Jawohl, sie ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Nastasja liebte eigentlich nur eine bestimmte Sorte von Synagogen, die anderen durchwanderte sie eher, sie ließ sich nicht wirklich darin nieder. Er sah es schon an ihren Augen, wenn sie etwas Geweihtes als zu kalt, zu glatt, zu hart, zu distanzvoll empfand. Warum muss denn diese Deutung so grausam sein, fragte sie. Sobald sie fremdelte, gab es diese Wand um sie, die sie stocken ließ. Als wäre dieses Rätsel nicht genug, hatten seine Töchter einen Streit begonnen, der mitten durch ihr Schulleben, aber auch durch eine Zwiespältigkeit ihres religiösen Daseins führte. Elisa war im Begriff sich Teilen des christlichen Glaubens und seinen Überlieferungen wie der Bergpredigt zuzuwenden, etwas unschlüssig, aber mit einer gewissen Neugierde, die sich in ihr durchsetzte. Pinea verstand das überhaupt nicht, war zu Tode in ihrer Seele verletzt über das gedankliche Weg- und Fremdgehen ihrer Schwester, auch wenn diese das interreligiös nannte. Und neben den jetzigen Schulerfahrungen, dem anstehenden Abitur und den daran anschließenden Aufbrüchen brachten seine Töchter so viel Beklemmendes aus dieser Institution mit, dass Thore sich fragte, ob das Umfeld, in dem sie lebten, das richtige für sie war. Außerdem hatte einer seiner Brüder eine arabische Frau geheiratet und sie waren sich alles andere als einig in der Gestaltung ihrer Beziehung, was sich auch auf ihren Kinderwunsch auswirkte; auf ihren Streit darüber. Unterschiedliche Religionsverständnisse und liberale und konservative Einflüsse, andere Familiengeschichten, eine Lebensführung hast Du, sagte die eine Schwiegermutter zur anderen… die Auszeiten von der Realität waren zu gütig, um wahr zu sein. Ständig mischten sich Menschen bei ihnen ein, die ihr unterschiedliches Geschichtsverständnis noch mehr beeinflussten, sodass Thore sich unwillkürlich und wiederholt fragte, was von ihrer Liebe nach allen Diskussionen, Verrenkungen und Spannungen noch übrig bleiben würde. So wichtig waren sie sich vielleicht nicht, wie das Ich des je einzelnen es von ihnen verlangte, oder das Sinnbild der Gemeinschaften ihnen es gebot. Es war also wieder einmal eine Zeit voller Fragen und kaum zu entwirrender Wiederholungen. Nastasja und ihre Familie machten da keine beruhigende Ausnahme, genauso wenig wie die Psychiatrie mit ihren Anforderungen. Meistens musste er sich nach dem Beruf abreagieren, nicht immer nach dem Sport fühlte er sich befreit.
Thore betrachtete das Lächeln von innen. Die Sorten. Mit dem Lächeln und dem Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau sollte man damals ins Gas gehen. Mit dem Lächeln wurden Menschen nichtsahnend oder absichtlich vorher fotografiert. Mörderhände und ihr Handwerkszeug. Es war eine lange Strecke dazwischen, zwischen dem Jetzt und Vorvorgestern. Aber immer wieder schnurrte sie zusammen. Das Lächeln gehörte auch heute zu den Ahnungslosen und zu den Arroganten. Es war das derer im gegenwärtigen Leben der Stadt, die erst ihre Verachtung, Abwehr und ihr Platzhirschhalten kundtaten, um dann, nach einem Schlagabtausch, mit einem feinen, maskenhaft gekonnt modulierten Lächeln das Abseits anderer zu quittieren. Mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit konnte man geradewegs jemanden ins Aus spielen oder sich dieser und jener in aller Freundlichkeit entledigen. Die Münder faselten, die Musik spielte dazu, die Instrumente sprangen in wechselnde Höhen, aber in der Tiefe des Herzens gingen viele vor allem zu sich selbst. Dies ging an den Grabenkämpfen um den Neubau einer alten, zerfallenen Synagoge in seiner früheren Heimatstadt ebenso wenig vorbei wie an den städte- und landespolitischen Intrigen in den Nachbarstädten, den papiernen Verlautbarungen politischer Behörden. Arbeitswesen, konnte das alles sein? Die je andere Partei war immer dafür verantwortlich, die Klüngelei verstanden die Platzhalter besonders gut, die Ideologien rieben sich aneinander ab, bis nichts mehr übrig blieb vom Ursprungsproblem, das sie angeblich versuchten zu bewältigen. Die Kommunikation der Seilschaften war dazu da, die Stühle so zu verrücken, dass sie über Jahrzehnte besetzt bleiben würden. Darüber lächelten nur die Ahnungslosen. Man konnte schließlich auch mit einem Lächeln sagen, dass man erinnere, dass es zu schwierig gewesen sei, einen passenden Termin füreinander zu finden. Die Ministerialbürokratie verbrauchte derweil unendlich viele Bestimmungen dafür, Behörde, Rundfunk, Amt und Gericht und ein Karussell dazwischen, was war der Alltag. Gab es noch etwas außerhalb der Geheimdienste, der Anstalten, der Behörden? Außerhalb der Spitzel und ihrer Hausmeisterdienste, innerdienstlichen Erkennungsmarkierungen auf Toilettengängen? Reichte nicht das kontrollierte Lächeln eines verständnisvollen Staatsdieners mit vorgeschobenen, diplomatisch verabreichter Besänftigung und digitaler Dienstleistung? Unverbindliche Drohungen im Sinne des haben wir uns verstanden oder Sie fliegen raus oder des feinen Händedrucks oder der Anweisung. Und dann gab es die Hebebühnen, die Preisverleihungen über das Lächeln der Verstummten hinweg. Die diversen Shows, Schlagabtausch dazu, die Inszenierung in den Fernsehsendern täuschte Authentizität in eingespielten Mustern der Rhetorik vor, käute sie wieder und wieder. Und das Dasein quittierte ein Lächeln, das Lächeln wiederum quittierte sich selbst ohne die Eigenschaft, das Fremde als eigenes anzuerkennen. Es würde nie aufhören, dieses Lächeln.
Erew shel shochaim. Das Licht der Rosen. Das gab es auch. Es war noch früh am Morgen, und die rosige Knospe einer Frau roch in sein Bewusstsein hinein. Sie saß nackt auf einem Stuhl, in einem zu großen, wuchtigen, barock anmutenden, goldenen Rahmen eingeklemmt. Der Po war ausladend seitlich über die Stuhlkante geschoben und über die schmale Taille hatte sie einen Arm auf die andere Stuhlseite gelegt, ihre Scham war dunkel wie das Haar und lag frei. Ihre Schenkel waren leicht geöffnet, ein Bein hatte sie schräg angewinkelt, das Haar lag auf der linken Seite und fiel dunkel darüber. Sie sah seitlich am Bildrand vorbei, und ihr Mund drückte unter dem edlen Nasenschwung, der an ein griechisches Profil erinnerte, eine Schwermut aus, die sich in den Augen wiederholte. Das linke Auge war kaum zu erkennen, es lag im Schatten. Ihr rechter Handknöchel lag auf der Lehne, ihre Hand streifte fast ihre Brust mit einer dunkeln Warze, die Brüste erhoben sich in den Raum. Und jetzt erinnerte sich Thore Baruch daran, wohin diese Frau gehörte, eine Kopie des Gemäldes hatte in dem Lokal Les Templiers in Collioure gehangen, Nastasja hatte es ihm genau beschrieben. Was konnte diese Frau sich gewünscht haben? Ein Streicheln wie ein Hauch, eine warme Decke über die Schultern, eine sanfte Zungenspitze, die sie anstieß und langsam in sie hineinfuhr? Ein Biss in die Ferse, ein langsames Hinwegstreichen über ihre Beine mit einer rauen Wange oder dem geöffneten Mund, sacht zupackenden Lippenmuskeln eines Mannes? Die Rosenknospen umkreisend und eine Spur bis zum Hals ziehend, damit sie den Kopf mehr als freiwillig bog, um aufgeregt zu warten? Wollte sie weiter nach vorne gelockt werden, bis sie über den Stuhlrand mit der Scheide reichte, auf den Poschenkeln saß, und er, würde er das sein, sie lange mit dem eigenen Fußzeh reizend? „Der Gott, der mich geweidet hat von meinem Dasein bis auf diesen Tag“,Bereschit 31,9-27, war das damit gemeint, wenn man diesen Satz ins Heutige übersetzte? Oder wollte die Frau lieber aufstehen und zu ihm gehen? Wollte sie verschwinden in die Richtung ihres traurigen Gesichts? Ging es um Geld, ging es um Enttäuschung? Das Gemälde gab es nicht preis, aber die Zeit der Fauvisten im äußersten Süden der französischen Pyrenäen an der Küste war keine, in der die Frauen oft den Mund aufmachen konnten , schon gar nicht zur Kunsttheorie. Doch die Sattheit ihres Körpers, die sinnliche Leiblichkeit, die pure Verschwendung schöner Gelenkigkeit, mit Neid gesprochen, und die natürliche Üppigkeit, gepaart mit der Zartheit der Gliedmaßen und des Gesichts im Kontrast zu dem kargen Stuhl, auf dem sie saß, sprachen Bände. Er hatte sie geweidet und weidete von diesem Dasein und konnte nicht genug davon bekommen, man sah sich nicht satt an diesem Bild, sagte ihm Nastasja damals auf einer Fahrt. Thore gab sich zu: Er hatte sich noch nie satt gesehen an ihr.
Beim Zähneputzen dachte er an die junge Referendarin, die wegen ihrer jüdisch- christlichen Themenauswahl als suspekt betrachtet wurde, interreligiöse Bezüge waren in der Didaktik der Schule genauso oft ein Ausschlusskriterium wie interdisziplinäre Bezüge an Universitäten. Die Anwärterin hatte die Note mangelhaft erhalten für ihren Versuch in der Examensarbeit, Wittgensteins Sprachspieltheorie mit Kants Moralphilosophie in Verbindung zu setzen, und die entsprechende Fachleiterin hatte es nicht kapiert. Kants Rechts- und Moralphilosophie könne damit nicht in Einklang gebracht werden. So stand es im Gutachten, er wurde hinzugezogen. Naja, da lag der Formalismusvorwurf nahe bei Schizophrenie, man brauchte dazu kein Hegelianer sein, die Referendarin hatte zu schweigen und zu schlucken, wenn sie nicht durchfallen wollte. Ein abgeschlossenes Philosophiestudium erster Güte und magna aus dem ersten Staatsexamen mit Doktorarbeit vorzuweisen hatte sie, aber Intellektuelle in der Schule waren nicht nur zu intelligent, um sie musste man sich auch noch kümmern, sie griffen an und stellten in Frage, wo andere ihre Mittel einsetzten. Sie dachten tatsächlich noch darüber nach, warum Schüler nicht intrinsisch lernten, während die Schülerschaft maulte wegen zu viel Lernstoff und Überforderung, am Ende gab es Scherereien mit der Elternschaft. Doktoranden waren keine guten Betriebspragmatiker, Opportunismus war erst mühsam anzutrainieren. Schade, aber typisch. Zu geformt, zu viel Persönlichkeit mit Humanismusquatsch und Gedächtnis.
Die Zahnbürste musste ausgetauscht werden, stellte er fest, und steckte sie doch wieder zurück in den Becher. Er nahm das Handtuch mit den hebräischen Buchstaben seiner Initialien darauf, um sich das Gesicht abzuwischen und die Haut etwas zu schrubbeln, bevor er es wieder an die Badezimmerheizung hängte.
Eine ehemalige Abiturientin aus der Schule seiner Töchter wurde gehänselt wegen ihrer Mischherkunft aus einer erst geduckten, sich vormalig in sozialem Aufstieg und Selbstschutz wiegenden, einerseits gegen die braune Macht abstinenten und allmählich in Widerstand bringenden Helfer- und andererseits Mitläuferfamilie, die ehemals konvertiert war, national wie religiös, auch aus jüdischer Herkunft. Man wollte diese Semesterauflage unkompliziert abhandeln und nicht mit Personen mit Extremsensiblisierung, mit Mischungen aus Mitläufer- und Opferfamilien konfrontiert werden, die auch noch in Täterfamilien eingeheiratet hatten, in jüdisches und atheistisches Umfeld eintauchten oder in geheimnisvolle Liebesaffairen mit Folgen eintraten. Alles kreuz und quer und belastend in der Genealogie von dipolaren Handlungen und inkonsequenten Familienzusammenhängen. Das Gelage passte weder den Politstrategen noch dem Inlandssicherheitsdienst, dem jüdischen Geheimdienst noch den christlich sich in Antisemitismusforschung ergehenden Professoren, die Kinder und Enkel der Altnazis hatten auch keine Freude daran, denn es gab immer etwas bei ihnen aufzudecken. Unsinniger Überschuss,, er hatte sich dann darum zu kümmern, per Überweisung. Seine Stadt war auch ihre. „Damit euch nicht ausspeie das Land, wohin ich euch führe, darinnen zu wohnen“, so wollte es Wajjikra. Daher war es jetzt wohl seine Aufgabe in den Tag zu kommen und etwas zu tun.
Es war noch so früh, er hätte sich noch zwei Stunden ins Bett legen können. Aber es gab diesen Kongress vorzubereiten, seine Redebeiträge und Moderatorenrolle darin, er musste seine Fallbeispiele nochmals durchgehen. Am Ende würde er dann einen seiner unvergesslichen Lieblingspatienten aufrollen. Von dem hatte er wirklich viel gelernt. In der Praxis halt ihm das wenig, aber das Geld war gut verdient und er war überzeugt davon. Von was? Es verschwamm ihm. Eine Erinnerung rollte an ihn heran. Das Wasser klatschte leise, rhythmisch und stoßweise an die schmale Steinmauer. Es hatte etwas Schlüpfriges, seinem Widerhall zuzuhören. Sein Gehör von damals kam ihm wehmütig nahe. Schmatzen, Schlürfen, Gluckern, Schwappen, Spritzen, Zurückfließen, das gefällt mir alles, dachte Thore Baruch. Ach, Nastasja, jetzt hast Du mich hier sitzen lassen, dabei fliege ich auf Dich. Nur wie Honig schmeckst du nicht. Momentan fühlst Du Dich an wie Schnittlauch im Mund. Aber das wird sich ändern. Thore war sich plötzlich sicher, er müsse nur Geduld haben, sie würde in einigen Wochen wiederkommen, und dann würde er gewinnen, den gutaussehenden Dunkelhaarigen mit den tiefforschenden Augen und der nachdenklichen Intellektuellenstirn konnte er ebenso bieten wie den zurückhaltenden schmalgesichtigen Durchgeistigten mit dem langen Bart, der an die alten rabbinischen Weisheiten anknüpfte oder er setzt sich einen Hut auf, den er mit orthodoxer Leidenschaft trug und sagte eine jiddische kleine frivole Frechheit oder wechselte ihn mit einer bunten Kippa aus und machte kaufmännische Rechnungen auf mit Hoteleinlagen zum Schmusekurs, je nachdem, was Nastasja mehr anzog. Fast war es zum grinsen, sie machte ihn schon durch Erwartung und den Gedanken über seine Sehnsucht warm. Er würde sie einfach intensiv ansehen, das hatte bisher immer geklappt. Besonders bei ihrer Ästhetik des Blickefangens: „Und von dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft gehet nicht hinweg, dass ihr nicht sterbet, denn das Salböl des Ewigen ist an euch“, Wajjikra 10,4-17 war das, glaubte er. Aber er wollte jetzt nicht nachschlagen. Seine blauen Ausgaben lagen ohnehin durcheinander in verschiedenen Räumen. Das Zelt, der Eingang und die Zusammenkunft – das Weiche, Gefühlsvolle und Gedankenreiche, das Stocken und Wegbrechen der Stimme, das Eintreten in die Teilnahme. Wie konnte man das in die Gegenwart übersetzen?
Thore hatte eine Idee, die er nicht für umsetzbar hielt, die aber dennoch auf einem Umweg für seine Aussicht brauchbar sein konnte. Er sah sie eingeklemmt zwischen verschiedenen, widerstreitenden Realitäten, zwischen Gruppen und Zuständen, die nicht zueinander passten. Dennoch konnte diese Idee eine Verbindung zwischen ihnen schaffen. Die Ideale seiner Zeit waren nicht nur im Kernland aufgehoben, und es würde immer Juden geben, die nicht dort leben wollten oder konnten, es gab Länder, in denen die Nationalität und Herkunft wie eine Wurzel waren, die sich mit ihrer Erde und ihrem Herzen verband, mit ihrer eigenen Mischung. Er wollte dazugehören, zu diesem Gemisch aus Liebe und Hass, das Brücken schaffen konnte und sein Leben mit anderen teilen, die nicht gleich waren, und doch in ihrem Wesen ihm glichen konnten. Es gab eine unterirdische Art miteinander verwandt zu sein, quasi psychogenetisch, wie eine Baumart nur neben einer anderen überleben konnte. Daraus konnten neue Existenzen erwachsen, Samen und Übertragungen, neue Lebensarten. Wenn man das auf eine psychosomatische, psychische Ebene übertrug und auf die Sprache, dann war man dem Jiddischen sehr nahe, dem SingSang des Abendlandes. Es kam aus verschiedenen Ländern, Kulturen, Gegenden, Erfahrungsräumen und hatte Sprachbestandteile immenser Grammatiken und Dialekte, es erfand und bediente sich immer musikalisch, und das Kauderwelsch seiner Seele war stets in Laute gemalt. Das Kauderwelsch seiner Seele war ihm aber in letzter Zeit mit Nastasja eher misslungen. Er wusste genau, warum sie ihn hier monatelang auf sie warten ließ, Meereslängen entfernt voneinander.
Es war eine alte unerledigte Geschichte zwischen ihnen, voller Bitterkeit, Verletzung und Vorwürfen sowie seiner Rache, ja seiner ungerechten und doch so plausiblen Rache. Da es keine Vergeltung gab und geben konnte, für das, was geschehen war…an wem sollte man diese auch auslassen, wenn nicht an seinen Liebsten? Er wusste, dass er gemein werden konnte, ungerecht, er wollte dann einen Keil schieben zwischen den Schmerz und sich selbst, und sie musste der Pflock dazu sein. Dieser Hass, den er bewegte, er hatte mit der Gegenwart viel weniger zu tun, als er sich selbst glauben machen wollte, aber er hing daran. Er ging mit ihm, er war da sozusagen, mit jedem Schritt, den er ging. Und manchmal hämmerte der Takt dazu, am Puls seines Herzens konnte er es fühlen, alles, und alles musste er ihr dann vorwerfen und zuwerfen, all das Unfassbare der Geschichte seines Volkes und seiner Familie und ebenso eines Teils ihrer Familie sollte unfassbar schwer wiegen auf ihr. Und der andere Teil ihrer Familie war bei ihm. Ihre Geschichte war anders als seine und doch gab es Gemeinsamkeiten. Und widerstrebend wollte er sie anfassen dabei, sich mit ihr verleiben, sie in sich aufnehmen, sie abstoßen, verwerfen und diese Verachtung des Lebens, seiner Umgebung, es ekelte ihn selbst an, wie er wurde, nicht nur, was er sah. Sie wollte zudem unbedingt etwas Unternehmerisches machen, ohne ihn, aber das war eigentlich zweitrangig, zwischen ihnen war das verkraftbar. Nein, es war sein Hass auf etwas, wofür sie nichts konnte, doch war ihre Familiengeschichte gesprenkelt und nicht linear und die seinen hatten gelitten, so gelitten, dass er nicht in der Lage war wie Jean -Jacques Goldman zu fragen, was er getan hätte, wenn er 1917 in Deutschland geboren worden wäre. Und dabei wusste er genau, wie nah sie ihm kam und wie nah er sie sah unter den seinen, er wusste, man erkannte sie, wenn man sie nicht verkennen wollte. Aber der abgrundtiefe Hass einer jüdischen Mame auf ein Fremdkörperwesen, so eingebildet und selbstüberheblich er war, hatte seinen Sinn. Das alte Getto wehrte sich, und wenn die Luft zum Schneiden war, konnte man den dahergelaufenen Nichtmutterjuden sagen, was wollt Ihr denn, zumal Ihr Deutschen unter uns, seid mal still, wir hassen Euch noch immer, dieses Land ist ein deutsches jüdisches und antisemitisches Land und dieses Land trennt die Juden für immer von Deutschen, welch ein Widerspruch quer durch uns selbst, dachte Thore, und dieses Land und jenes Land, spätestens jetzt müsste man dem Druck mit Drogen und Alkohol und Schlaf entkommen oder mit Tränen. Und die Selbstüberheblichkeit, die sich überall mit Verachtung besprühte gegen die Umgebung wie andere sich mit Parfüm, es war ihm peinlich, mit welcher inszenatorischen Willkür man sich gehen lassen konnte auf allen Seiten. Nastasja, murmelte Thore, jetzt fasele ich vor mich hin, ohne Dich, und Du bist froh, mich los zu sein oder hast Dich abgekehrt von uns oder hast beschlossen etwas zu machen, ohne all die Besserwisser , die die Richtlinienkompetenz wie ein Netz über Dich warfen.
Der ausländische Blick. Gedichte an die Heimat. Der ausländische Blick, das war sie. Er hatte Gedichte von ihr per Post bekommen und sie hatte ihnen einen Titel als kurzen Kommentar beigefügt. Ihm gefiel ihr ausländischer Blick und, dass er ihre Heimat sein konnte und ihre Sehnsucht beherbergte, jeden Morgen und jeden Abend neu. Er fragte sich, was für ein Hemd er anziehen sollte an diesem Morgen, passend dazu. Er ging vom Badezimmer zum Schlafzimmer über den Flur und spürte die feinen Fasern des Gabbehs an seinen Sohlen, mit einem Blick erfasst er das leere, noch vom Schlaf zerwühlte Bett ohne seine Frau. Er ging zum Schlafzimmerschrank und schloss eine Tür auf, um ein frisches Hemd auszusuchen. Ein Hemd von der Farbe ihrer Gedichte. Sie lagen, zusammen mit dem Kuvert, auf seinem Nachttisch und er las sie mindestens zweimal in der Woche. Er ging auch jetzt, während er sich ein lindgrünes Hemd überstreifte, zum Nachttisch, setzte sich auf die Bettkante und begann sie zu lesen.
1
Schon dort, wenn gar nicht angekommen.
Noch hier, stets voller Ungeduld.
Geh weg
Heißt: Gehweg, lange Strecke
Weg zu dir.
So lange es dauert, gehen wir.
Ich sehe deine Beine. Ich sehe Deinen Hals.
Ich nehme Zeit von Dir, die Deinen Weg begleitet.
2
Der Brief liegt weich und weiß
Und ungefaltet neben dem Tintenfass.
Ich schreibe alles auf, was ich nicht kenne.
Was zu spät kam, zu früh
Und unbegreifbar blieb, entglitt.
Ein Satz ist viel an diesen Tagen,
an denen das Papier ausgeht, davon
läuft mir der Schweiß.
Es entstehen Abdrücke
von dem, was ich schreiben wollte,
das Blatt legt sich über das Blatt - fast von selbst
weg.
Reste: wie man Post an sich selbst schreibt
Kleben an meiner Hand.
Die Tischkante berührt mich noch.
3
Mit den Fingern hinterlasse ich Spuren
auf meiner Haut. Ich fasse nach mir.
Mein Streicheln entfernt das Denken,
den laufenden Bildschirm: Erkenntnisnot.
Aus allem wird eine einfache Handlung
über stillhaltendem Busen.
4
Ein beklemmendes Gefühl:
Brustwarzen zu haben, die sich auf& ein
Richten nach Bedarf
Geküsst werden will ich, bei ihnen sein
Während alles fließt
5
Das weiße Hemd trägst du
Leise auf mich zu
Es laufen Läuse darüber hinweg
Schwarze Punkte über hellen Abgründen
Sie sehen mich an
Glühende Augen hinter dem schwitzenden Blut
Laufen kreuz und quer
Suchend ein Loch im Knopf
Aus deinen Achselhöhlen entsteigt ein Duft
Der als Asche auf dem Grau meiner Seele aufkommt
Während der Tag uns für Sekunden glättet
Das weiße Hemd, das wusste er…es gab keins, das ihm wirklich passte. Innerlich hatte er immer wieder mit unterschiedlichen Torastellen zu kämpfen:
A. Verunreinigung, Auslöschung, Strafsanktionen, ständige Anweisungen: Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt; ein Gräuel ist es, stand in Wajjikra 18,11-30, und weiter: So ward das Land verunreinigt und ich suche die Schuld heim an ihm und das Land speiet aus seine Bewohner, ja, das waren mehr als Bilder, auch wenn berühmte Kollegen der Vergangenheit und zu Recht anerkannte Kollegen der Gegenwart von erzählten Bildern und symbolischer Übersetzung sprachen und schrieben. Jedes Kind musste doch auf die psychologische Wirkung reagieren, und die Autonomie der Frauen konnte nur herauslösend bestehen. Bis heute schüttelte es ihn, seine Patienten, allgemein Menschen, die ihm näher kamen, seine Familie, seine Lebensgeschichte, was diese Bilder bewirkten und hervorriefen, wie diese Sprache in die knochige, verquere Seele fuhr.
B. Auf dem Bildschirm hatte er wieder einmal verfolgt: Auf Bewährung verurteilt, eine alte Frau mit über 95 Jahren als Hannah Arendts Schraube im Betrieb, wesentlich, ja, weil freiwillig im Konzentrationslager gearbeitet, ja, aber ja!- aber statt in Deutschland nach bald 80 Jahren ehemalige NS-Eliten und ihre ökonomischen Hierarchien in Behörden, Industrie und Adel entnazifiziert zu haben, machten sie noch hier eine alibihafte Entsorgung kurz vor dem Ende und da eine und da noch eine, untermischt mit etwas medialer Plausibilität, und die Zeitzeugengeschichte von Angesicht zu Angesicht erübrigte sich ohnehin, wie alles andere, von selbst. Dafür sorgten die so langsam und so effektiv arbeitenden deutschen Behörden, und nicht nur diese. Man sollte in die Zukunft schauen, nicht auf Putins Netzwerk von Frankfurt über London nach New York, wie es in den Büchern stand...Meist waren Prolog und Epilog schon desillusionierend genug. Alles andere war ebenso deprimierend, erst recht mit einem Krieg auf dem Kontinent, den bürgerkriegsähnlichen Episoden und den Freudenfeiern über ermordete Synagogenbesucher in Israel. Herrschaft war stärker als Demokratie, Hass entlud sich immer wieder periodisch, hatte das nicht schon die vergleichende Verhaltensforschung behauptet? Im Isenburger Schloss in Gelnhausen Meerholz und anliegenden Wohngebäuden war gefoltert worden, enteignet und eingesperrt, ohne dass bis heute irgend jemand zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Nastasja hatte ihm aus ihren früheren Berufsjahren, aus journalistischer Recherchenarbeit mit einer Institution erzählt, wie auch über Euthanasiepolitik im hessischen Spessart, Praktiken des Terrors in den Dörfern hinter Wächtersbach und Bad Orb. Niemand kümmerte sich mehr darum, obgleich es Zeitzeugen gegeben hatte, Interviews und Tonbandprotokolle. Der Hass entlud sich gierig und gern im Menschen, Apparate stärkten das. In Kronberg konnte man erfahren, auf welche Weise hochrangige FDP-Politiker ehemalige deutsche Banken zu Stiftungszwecken wiedergutmachen ließen, adlige Vertreter aus staatspolitischen Raisongründen parteiübergreifend telefonierten bis in die Prinzengemächer hinein. Alles hatte schließlich nach der NS-Diktatur eine neue Ordnung gehabt und zwei Seiten.
Thore dachte kurz an seine psychiatrischen Ambulanzeinsätze, die oft jahrelang ergebnislos vor sich hinsiechten bei aller Protokollarbeit ohne Therapie für die Kinder, mit überlasteten Justizangestellten, abwiegelnden Richtern und mit langwierigen, qualvollen Gerichtsverfahren für das Kind, Thore dachte an die Gespräche mit dem suizidalen, mehrfachen Vater, der mit Vorliebe im Ehebett erst seine Frau nahm und ihr dabei nur das Nachthemd hochstreifte, und sich dann an der neunjährigen Tochter verging, der er beigebracht hatte sein Glied zu lecken und, bevor es ganz hart war, schob er sich in ihren runden Kinderpopo. Sie drehte sich und krümmte sich dafür und er dirigierte sie. Auf dem Spielplatz bewunderten andere Kinder ihren übertrieben gemusterten roten Mund, und Eltern besahen sich widerwillig das merkwürdig unkindliche Gesicht. Die anschaulichen Beschreibungen hätten in jeden wirkungslosen Roman gepasst.
C. Rache konnte die widerwärtigsten Praktiken entwickeln, die sich Nachfahren von Überlebenden leisteten, ohne mit der Wimper zu zucken, er wusste es von sich selbst, und hatte es auch bei anderen so erlebt. Nastasja hatte lange und viel ausgehalten, hatte mit ihm gerungen, und manchmal hart gekämpft und gestritten und sich irgendwann zurückgezogen. Dubioser Dibbuk und Dämon, Hitler gewann immer noch und mischte sich überall ein. Inzwischen waren sie alle Nachfahren von Nachfahren und deren Nachfahren. Und nicht nur und ausschließlich in Opferfamilien hatte es die Überlebenden gegeben, auch in Mischfamilien, hin und wieder im Mitläufertum, selbst bei Kollaborateuren, die sich besannen. Und was die Mehrheit der Masse betraf: Auch die unschuldigen Enkel, Urenkel und Ururenkel von Mördern konnten von Nachfahren jüdischer Überlebender misshandelt werden; wie diese selbst wieder und erneut trotz des millionenfachen Mordens zu Antisemiten heranwachsen konnten. Nicht Israel machte ihn missmutig. Aber doch… der engstirnige Rassismus der sich haredisch nennenden Auferstehungsbewegungen betraf verschiedene nichtjüdische Völker, andere jüdische Gruppen oder Mischwesen oder Menschentypen, die sich anders oder schicksalshaft und kulturell mit ihrer jüdischen Geburt verbunden sahen. Doch konnte er diese Erweckung von Ursprüngen und das kleinlich-grausame Beharren auf der spirituellen Leiste der Mystik verstehen - wenn es denn dabei geblieben wäre, etwa jiddische Kultur und Sprache zu erhalten, das Leben im Schtetl geschichtlich zu ergründen, Musik oder Speisetraditionen und religiöse Spiritualität wieder zu beleben. Was konnte das aber sein und werden – ein anderes Amen als mit anderen, als ein gemeinsames Amen gab es nicht. Sich mit den Ahnen niederzulassen, neu zu siedeln war kein Verbrechen. Aber so einfach war es politisch nicht. Und persönlich hatte er versagt und war nicht umgekehrt, er hatte oft und lange kein Amen für Nastasja übrig gehabt. War mit seiner Gier über sie hinweggeglitten, hatte ihr seine Wut stoßweise gegeben und war dann einsam in seine Erschöpfung zurückgefallen.
Und D., oder war er noch bei C? Auch er hatte Nastasja das fühlen lassen, dass er meinte, sich alles erlauben zu können, weil Antisemitismus eine Tagesform der Gesellschaft war. Aber das ertrug ihre Lebensgeschichte nicht, das wurde ihr nicht nur nicht gerecht, es war auch unsinnig. Manches Mal musste er sich eingestehen, dass ihre Israelliebe viel größer war als seine, jedenfalls wenn es um so etwas wie die Verbindung zwischen dem Bund und seinen Teilen ging, dem Rufen von Kontinent zu Kontinent, dem Kern der Sprache im Gesang, dem Land der Sehnsucht selbst. Ja, sie konnte die Asche auf dem Grau seiner Seele sehen, mochten noch so viele Verräter und Spione sie bedrängen, sie häutete sich zäh. Man erkannte sofort, dass sie nicht mehr betonen, erklären musste, worin sie ihm ähnelte. Sie war diejenige, die weich und weiß und schmutzig wie benutztes Papier in seinem Hirn aufgefaltet werden wollte, und berührte ihn, während er auf sie blickte, das Herz offen, die Beine leicht gespreizt und das Haar gelöst.
Jetzt war er aber bei D. Wer hatte da Angst vor alten Frankfurter Zeiten, sich im feinen Milieu neu zu bepinkeln, bepinkeln zu lassen? Wie viele Titel mussten ganze Schlammschlachten auf erotischem Beckenniveau verdecken, wie viel Dünkel posieren und ölige seichte Mehrsamkeit als Echo auf Gier im Leben herbeiwedeln und herbeireden? Die Zeit, ach ja, die Zeit, wie sie dabei verging. Wie viele Zeitungen hatte er dabei schon auf- und wieder zugeschlagen? Medikamentendosierungen vergeben? Wer schickte ihnen nach jedem Interview, jeder Recherche und jedem Gutachten die Schlampem mit ihrem schauspielerischen Obeneohnetalent und ihrer scheinbaren verschlagenen Kalküldummheit, von elektrischen oder männlichen Informanten gestützt? Die Fallen, die gestellt wurden, damit die Deckung gegeben war, für eine ganze Reihe von Menschengruppen, waren nicht nur von anderen gestellt. Von Alef zu Beth, über Gimel und Mem zu Kof und ßamech, vor und zurück wussten es alle besser. Die Insider. Also das weiße Hemd anziehen, dachte Thore Baruch spöttisch. Das ist wie ein Befehl: Brautkleidung für die Bräute des Mittags bestellen, nähen lassen, anziehen, begutachten. Das Glas zertreten mit Spott und Häme und mit dem Finger darauf zeigen, sich trennen mit einer Sprache, die die anderen zu Scharlatanen und Querulanten und bloßen Körpern machte, als Eindringlinge von sich abwies. Wir wurden schließlich auch immer als Eindringlinge behandelt. Nastasja, ich könnte Dich für all das schütteln bis heute. Die Liebe zu Dir schmerzt und ohne geht es nicht. Die Verachtung, die er manchmal empfand, konnte so hasserfüllt groß sein wie seine eigene Ähnlichkeit mit der Verachteten, das schmerzte ihn am meisten. Der Glaube verband sie, aber das Zicklein, die Engel, der fliegende Schornstein, die Buchstaben, sie wirbelten zwischen ihnen herum. Von alters her. Bilder. Bildsprache. Filmsprache. Sprache war nicht für Schwere geschaffen, für die wenigsten war es wirklich geeignet im Tiefgang, im Kniegang, in einer Pfütze zu schürfen. Die Systemiker bespitzelten ohnehin lieber, zeigten sich, wo sie konnten, machten Filme und Fotos und auf sich aufmerksam, durchforschten Homepages nach Angelegenheiten, die sie etwas angingen und drohten und reagierten, obgleich im Grunde auf ihre eigene Wahrheit, oder recherchierten vielmehr ihr Tun und Unterlassen, machten auf sich aufmerksam mit Inszenierungen oder glaubten, man bemerke sie nicht, dann wieder sollte man sich genau merken, ihrem Schwarzmarkt sollte niemand in die Quere kommen, der nichts von Kartellen verstand. Eine Liebesaffäre war das eigentlich nicht. Es war noch mehr. Mehr als all dieser Quatsch dieser Funktionäre. Zwischen ihm und Nastasja war sehr viel mehr. Zuerst würde sie allerdings wiederkommen und merken, wie sie investieren musste. Und er würde warten auf den richtigen Moment. Und das, das bin jetzt ich, dachte Thore Baruch, das sollte keine Illusion sein.
Er sah den Tag auf sich zukommen und konnte sich nicht entscheiden, ob er sich mit ihm arrangieren wollte. Die Halbwelt sah zu, und die ganze Welt fühlte sich düpiert. Die verrückte Welt maß die Dinge ab zwischen beiden, und die nüchternen Bürgermeister gaben die unverschlüsselte Post weiter. Die Psychiatrie stülpte wieder einmal ihre Lippen auf und sog die Luft aller ein. Er würde den Kongress später ernst nehmen und sich für eine weitere Stunde ins Bett legen, vielleicht auch zwei. Er ging wieder über den Teppich, nur diesmal auf die andere Seite des Bettes, das er mit Nastasja geteilt hatte, legte sich, Gott ja, mit dem frischen Hemd direkt neben die Blätter von ihr, streifte sich die Decke über und rollte sich zusammen zum ersehnten Schlaf.
Mit 30 eigenen Bildern, Illustrationen und Zeichnungen,
hier Zeichnung 10 aus Kapitel 5 (siehe unten ) :
Figur Thore Baruch nach dem 7. Oktober (4. Antlitz) ;
darunter Zeichnung 18 aus Kap. 6: Figur Elena Rosocha (2. Antlitz)