Probelektüre "Fremde Wesen"
Prolog
Eines Tages, als ich auf Reisen war zu meiner Großeltern Grabstätte, kam ein fast unbekannter Mann in einer Kleinstadt, die stets meine Zwischenstation war, auf mich zu, wieder hatte ich auf dieser Durchfahrt infolge eines verwandtschaftlichen Treffens einen meinen Cousins dabei, der sich gerade verabschieden wollte. Verblüfft stand er da und starrte auf den Mann, während ich ein absurdes Gefühl bekam in Unwirklichkeit einzutreten, und dieser blieb in einem Abstand von etwa zehn Metern vor mir stehen. Andere Passanten strömten wie rauschender Regen an uns vorbei, ein horizontaler rapider Niederschlag während der Einkaufszeit stellte sich ein, Geschäftigkeit war fühlbar und flink, der Feierabend vor dem müden Umfallen nahte. Der Mann war sehr groß und schwer gebaut, in einen langen dunklen Mantel gekleidet, ohne dick auszusehen. Seine Augen hielten meine fest und lenkten sie. Unbeirrt versuchte ich weiter zu gehen und wich ihm seitlich aus. Er holte sein Portemonnaie, schwarz und gebogen von Scheinen, aus dem Innenrevers seines Mantels und entnahm ein schmales, kleines Foto. Diesmal streckte mein Cousin die Hand danach aus. Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus den 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts, eine Nahaufnahme, schräg im Profil. Der Mann auf dem Foto war schon alt und trug einen Hut. Er hatte das gleiche Augenrund und die gleichen Augenringe wie ich, die gebogene Nase, die Wangenknochen, die Haarfarbe, den Teint. Dem Todesjahr zufolge war er gestorben, als ich noch ein Kind war. „Dein Vater war sehr, sehr viel älter als Deine Mutter, er war ein Leben auf einem anderen Kontinent gewöhnt, er hat Dich nicht gekannt“, sagte der Mann, der ebenfalls mit ihm vertraut oder verwandt zu sein schien. Er wirkte hilflos. Er setzte an zur Erklärung, in der auch Hamburg, Berlin und der Taunus vor langer Zeit vorkamen, und schwankte dabei, als wäre das Gehen doch besser. Mein Cousin begann ihn halb unwillkürlich, halb ärgerlich zu stützen. Ich fing an mit einem krächzenden Laut zu lachen, der sich völlig fremd in meinen Ohren anhörte. Da wusste ich es. Eines Tages werde ich nicht mehr sein. Nicht auf diese Weise. Ich gehe ins Licht. In meine eigene Fotografie und verschwinde.
Kapitel XXIV
Bevor ich zu Anne ins Zimmer trat, hatte mir der Psychiater eine maximale Frist von einer Stunde gesetzt und mich gebeten, beim leisesten Anzeichen von größerer Anspannung auf den Piepser zu drücken, den er mir in die Hand drückte. Seit zwei Jahren lebte sie wieder in der geschlossenen Ablteilung. Ihre persönliche Betreuerin hatte mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Anne in unterschiedliche Zustände verfiel, die ein Zusammenleben mit anderen in wachsenden Maße unmöglich gemacht hatten. Meist saß sie stundenlang starr an einem Ort und sah beharrlich, ohne auf Abläufe, Geräusche und Menschen zu reagieren, auf einen Lichtreflex, von dem sie erklärte, dass er ihr eine Botschaft aus einer anderen Welt brächte, in deren Universum nur Primzahlen die wahre Sicht auf der Welt ermöglichten. Dieser Lichtreflex, wurde mir erklärt, konnte von einem geringfügigen Schattenpiel an der Wand ausgehen, von einem einfallenden Sonnenstrahl oder vom Lämpchen eines elektronichen Geräts. Grelles Licht fürchtete sie als explosionsartigen Stoff eines Überdrucks an gewaltigen Informationsmassen, vor denen sie ihre Augen zu schützen suchte. Bevor sie zusammenbrach, und in einen tranceartigen Zutand geriet, in dem sie weder lief, noch aß noch schlief, äußerte sie prohetisch die Überzeugung: "Alle Welt ist so, als ob alles auf etwas wartet, seht ihr, da kommt es!"
Wenn diese Phase abgeklungen war, ging sie auf die Menschen zu, als sei ihr die vertrauteste Umgebung fremd geworden. Sie berührte alle Gegenstände, als seien sie ihr vollkommen unbegreiflich, fragte, wozu der Stuhl auf dem sie saß, eine Lehne habe, legte ihren Kopf an die Wände, um ihre glatte Fläche, die Struktur der Tapeten zu berühren, und horchte den Geräuschen nach, die sie hinter den Mauern hörte. Sie stellte eine Verbindung her zwischen den ziehenden Wolken am Himmel und den Bewegungen von Besuchern und Patienten im Park, die sie vom Fenster aus beobachtete, und berührte die Kleidung der Menschen, die bei ihr ein und aus gingen, als fasse sie deren Stofflichkeit nicht. Mehrmals hatte sie versucht, die mit Sicherheitsverriegelungen versehenen Fenster zu öffnen, um in die Tiefe zu springen, einmal hatte sie einer Mitbewohnerin ein Büschel Haare ausgerissen, weil sie glaubte, an deren Hinterkopf befände sich eine Klappe, die sich öffnen ließe. Während der Tage, in denen sie von all diesen Zuständen verschont blieb, wirkte sie wie ein motorisch verhaltensgestörtes Kleinkind, das einzelne Wörter oder halbe Sätze von sich gab, die es wiederholte oder sich an den Fingern zog, bis es knackte. Sie erklärte den rechten Arm, den sie sich damals an einem Baum zerschlug, für gebrauchsunfähig. Sie wiegte ihren Kopf und ihre Schultern kreisförmig hin und her, als sei sie auf ein inneres Gleichgewicht angewiesen, das sie in Schwingungen versetzte, die sie glücklich zu machen schienen.
In diesem Zustand war sie, als ich das Zimmer durch eine Tür betrat, in der eine kleine Luke mit einem Glasfenster dem Personal jederzeit Auskunft über die Ereignisse im Raum gab. „Guten Tag, Anne“, sagte ich leise, und den Anweisungen der Psychologin folgend, hielt ich meine Stimme in gleichbleibendem, monotonem Redefluss. „Ich bin es, Caroline, die Tochter Deiner Schwester Marthe. Sie lässt Dich herzlich grüßen und kommt bald selbst.“ Anne saß auf einer Matte und ließ ihre Füße wie zwei Schnecken über den Boden gleiten, sie schüttelte den Kopf wie ein Pferd seine Mähne und legte ihr Kinn auf die Brust. Der Anblick meiner Tante bestürzte mich trotz der Vorbereitung, die ich hinter mir hatte.
Anne war knapp achtundfünfzig Jahre alt, die Spuren in ihrem Gesicht machten sie doppelt so alt, und ihre Mimik doppelt so jung. Ihr Gesicht wirkte so weich und unbescholten wie das eines Säuglings, doch der erste Anschein trog, sie sah mich an mit den Augen einer Hundertjährigen. „Anne“, sagte sie mit einer federnden, hohen Stimme, „ja, ja, die Anne“. Sie setzte sich auf die Knie und krabbelte ein Stück auf mich zu, wandte den Kopf zum Fenster und mied meinen Blick. „Anne“, wiederholte sie und nickte. Ihr blondes Haar mit den einzelnen weißblonden Strähnen war hier und da ergraut, leuchtete aber noch, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Ihre Augenfarbe war undefinierbar. Da sie mich kaum anschaute und ihr Blick ständig über den Boden glitt, als suche sie etwas, war ich schon froh, dass sie sich in meiner Nähe bewegte. Sie hatte einen dunkelgrünen Trainingsanzug an, ihr Körper wirkte puppenhaft darin, und ihr Gesicht war aufgedunsen, vermutlich der vielen Neuroleptika wegen, die sie einnahm. Ihre Lippen waren blass und in den Winkeln herabgebogen, sie fuhr sich in kurzen Abständen mit der Zungenspitze darüber. Ihre rotblonden Augenbrauen bildeten einen sanften Kontrast zu den feinen Linien, die sich quer über ihre Stirn legten und von der Nase zu den Mundwinkeln zogen. Der Hals war muskulös, regelrechte Striemen zogen sich zum Kehlkopf, sie musste in unaufhörlicher Anspannung leben, wenn ihre Muskeln so ausgeprägt waren.
Da Anne sich ruhig verhielt, ging ich Schritt für Schritt auf sie zu, setzte mich neben sie und verharrte eine Weile. Sie legte abermals ihr Kinn zwischen die Schlüsselbeine. Eine blonde Strähne war ihr übers Ohr ins Gesicht gefallen, ich hätte sie gern zurückgestrichen und ihre Wange gestreichelt. Sie schaukelte nun ein wenig hin und her und stieß mich dabei an. Anscheinend war sie bereit, mich zu berühren, wenn auch auf ihre eigene Weise.
„Ich habe dir etwas mitgebracht, Anne“, sagte ich und zog ein Päckchen hervor, das einen flauschigen Damenschal enthielt. Wie Ottilie mochte sie es, wenn etwas um sie herumflatterte. „Ein Linusvogel“, sagte sie. „Ja“, nickte ich, „er fliegt mit dir.“ Mein Hals war trocken und eng, ich atmete mehrmals tief aus und ein. (...)
Spurensuche in Israel
Gedenkstein in Yad Vashem: Er erinnert an die Ermordeten und Emigrierten aus den jüdischen Gemeinden in Allenstein und Johannisburg, Osterode und Sensburg, sowie vielen anderen in Ostpreußen