Die unzählige Alte
Rezensionen zur "Unzähligen Alten"
Alexander Soltenberg 5,0 von 5 Sternen Frankfurt ist nicht Utopia
25. Februar 2019
Das Frankfurter Nationalgericht, die "Grie Soß", muss aus mindestens sieben Kräutern bestehen, um kulinarischer Kritik standhalten zu können. Wieviel mehr Ingredienzien sind nötig, damit eine Frankfurt-Erzählung der ästhetischen Kritik genügt?
Die Erzählung "Die unzählige Alte" gruppiert folgerichtig um einen Schwerstpflegefall herum ein facettenreiches Ensemble an glaubhaft gezeichneten "Frankfurtern" aus prekären Verhältnissen mit den Erscheinungsformen Alkoholismus, Alltagsrassismus, Obdachlosigkeit und Unterschicht-Rowdytum, aber auch Momenten von ergreifender Solidarität.
Der Stil bemüht sich, nachvollziehbare Beispiele für eine Unzahl jener Begriffe zu liefern, die die Literaturwissenschaft in den letzen ca. zweitausendfünfhundert Jahren zur Analyse von Texten geschaffen hat. So wird beispielsweise die Produktionsästhetik nicht nur durch die Mühen einer fiktiven Autorin, sondern daneben durch die Kommentare eines frühen Kritikers und einer Erst-rezipientin lebendig illustriert. Dem Leser werden auch allerhand unorthodox formulierte Textabschnitte zugemutet. Das ist jedoch kein Nachteil, sondern eine Bereicherung, zumal die Autorin jeglichen trockenen Akademismus vermeidet.
Die Geschichte handelt vom Tod, beschrieben als Alltag des langsamen Sterbeprozesses einer beim Pflegedienst als "Klientin" geführten Frau, der allein-lebenden, senilen Johanna Maria Born, angereichert durch schlaglichtartige Hinweise auf ihr Leben und die Schicksale ihrer Vorfahren, die aus dem Spessart stammen. Dieses Mittelgebirge kennen viele nur als Kulisse der Unterhaltungsfilme "Gasthaus im Spessart" und "Spukschloss im Spessart" aus den späten fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die vorliegende Erzählung enthüllt, was es wirklich bedeutet, aus dem Spessart zu stammen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einem der Armenhäuser Deutschlands. Diese Konstellation gibt der Autorin Gelegenheit, die Frauenfrage zu behandeln, beginnend mit der Ausbeutung von aus ländlichen Gebieten stammenden, bildungsfernen Arbeiterinnen. Daran knüpft aber nahtlos an, dass es auch für die scheinbar "vollemanzipierten" Frauen unserer Zeit trotz eigenem Universitätsabschluss nach wie vor Probleme gibt. So beim Single-Sex, der nur in Form eines nächtlichen Freiluft-Quickies auf einer Motorhaube möglich zu sein scheint.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der ambulanten Hilfspflegerin Maren. Zur Überraschung des Lesers ist das nicht die typische Osteuropäerin, sondern eine Studentin der Philosophie. Daher werden die Erlebnisse mit Johanna Born – besonders natürlich die Themen Sterben und Tod – laufend intensiv aus philosophisch-ethischer Perspektive auf hohem Niveau reflektiert. Auch Marens Leben ist vom Tod geprägt, denn ihre Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
Über die Philosophie kommt der Universitätsalltag mit den Gegensätzen von Ethik und Wirtschafts-Ethik angesichts rasanter Entwicklungen von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin ins Spiel. Dort beginnt auch eine anfangs überzärtliche Liebesgeschichte, in der Gott Eros nur ein einziges Mal seine Macht voll ausspielen darf, die aber letztlich unerfüllt bleibt. Ein utopisches Happy-End würde auch nicht zu "dem was ist" (Theodor W. Adorno) passen, nämlich zu einer Welt, zu der der Tod unvermeidbar dazugehört.
WS, 5,0 von 5 Sternen: Starke Frauen auf der Suche nach Freiheit, Sexualität und Liebe
3.3.2019
Ein wichtiges Buch – lebensprall, einfühlsam, sinnlich und doch immer wieder etwas wehmütig.
Stefanie Gödekes lebendig-originelle und kluge Erzählung befasst sich mit vier Frauen, in deren zum Teil verstörende Gefühls- und Lebenswelten sie ihre Leser offen, aber auch mitfühlend-sensibel mitnimmt. Sie spannt sie ein in deren Leben, das da liegt zwischen rasch aufblühender, junger Liebe und langsamem Vergehen im Alter, abhebender Philosophie und bodenständiger Lebenswirklichkeit, überschäumender Sexualität und intellektuellem Erkenntnisgewinn. - Absolute Leseempfehlung.
Die junge Studentin der Philosophie Maren Gottschalk pflegt ein Jahr lange Johanna Maria Born, deren Leben langsam zu Ende geht, die sich aber , trotz demenzbedingter Schübe, dieses auch traurige Leben nicht aus den Händen nehmen lässt. Zentrale Fragen werfen sich auf: Was ist Glück? Verträgt es sich nicht mit dem Alter bzw. Altern? Wie verhält es sich zum Leiden in der Welt, gar zum Tod? Ist das Leben nach philosophischen Ideen gestaltbar? Oder hat es eher eine Eigendynamik, bei der rationale Reflexion nicht zur lebendigen, lustvollen Leiblichkeit beitragen kann?
Eine lesenswerte Erzählung voller Lyrik und Poesie. Sinnsuchend und sinnlich. Sehr geistvoll, mit hintergründigem Humor und einer wunderschönen Metaphorik. Stilistisch zuweilen experimentell, vielleicht manchmal darin etwas überbordend, mit verlangsamenden Elementen, damit das Erfahrene reflektiert werden kann, mit erlebter Rede, innerem Monolog, oft wechselnder Erzählperspektive - besonders zielsicher angewandt im Liebesspiel zwischen Maren und Frank.
Immer wieder neuer Lesegenuss durch wunderschöne, treffende, manchmal sehr melancholische Metaphern wie diese: „Er schickte mir Zwerge ins Haar“ (S. 49). „Sie hoffte, dass sich das Warten bezahlt machte in einer unbekannten Währung, hatte keinen Schimmer vom Wechselkurs zwischen den Geschlechtern und Generationen (S. 216).“ „Meine Endlichkeit rieselte durch ihren Anblick (Simon und Jakobi), ich sah durch sie hindurch auf Johannas Sterben (S. 76). - „Johanna Maria Born sitzt mit dem Herrgott allein im Raum und runzelt vor sich hin.“ (S. 197).
Räumlicher Hintergrund sind Frankfurt, der hessische Spessart und Hanau (Pulverfabrik Wolfgang). Die erzählte Zeit beginnt im 19. Jahrhundert (Johannas Mutter, ihr Leben im Spessart und als „Kanarienvogel“ in der Hanauer Pulvermühle zur Zeit der dortigen Explosion 1889) und erstreckt sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts im Universitätsmilieu Frankfurts.
Die Erzählung wird durchzogen von der Sehnsucht nach Liebe bei Johanna und Maren, einem Hunger, der sich durch ihre „Einsamkeit frisst“ (99). Mit der Erzählerin erleben wir Leben in seiner Fülle und Breite: zwischen Liebe und Zwangs-Prostitution, Opportunismus und Demenz, Mann und Frau, Geburt und Tod, Reichtum und Armut, Prekariat und Intelligenz, Küssen und Kot, den ersten und den letzten Dingen.
Eine junge Frau auf der Reise zu sich selbst (S. 116). Ihre Freundin Amira sieht das deutlich: „Du suchst Vertiefung, Entgrenzung bei anderen, um Dich selbst zu fühlen(S. 116)“. Eine Ode an „die Liebe in unserem Leben, ihre erlösende Kraft, die manche Glauben nennen“. (118)
Die beiden anderen starken Frauen sind Charlotte, eine selbstbewusste junge Frau und Wissenschaftlerin auf dem Weg der Befreiung aus den alten Männerhierarchien an der Uni. Und Amira, Marens schwarze Freundin und Ärztin, die die doppelte Diskriminierung und Rassismus als Frau und Schwarze zu überwinden lernt.
Eine trostspendende Erzählung: Zwar kann das Altern grundsätzlich, sogar schon bei jungen Menschen, zu einem schmerzlichen Teil von Lebenserfahrung werden. (183) Aber sobald der Mensch das Leben als eine Totalität erfasst, also auch in der Freude, im Genuss und im Glück den Tod sehen kann, braucht er nicht darüber zu verzweifeln. Denn die Totalität des Lebens erhebt gegen das Verlassen Einspruch durch seine Existenz (S. 141).
Lesegewinn für alle Phasen des Leser-Lebens!
Amazon-Kundin, 5,0 von 5 Sternen: Sprachliches Kunstwerk
7. April 2019
In der Erzählung werden die Lebensstränge sehr unterschiedlicher Frauen miteinander verknüpft.
Die Charaktere sind einfühlsam und liebevoll entwickelt und die unterschiedlichen Lebensphasen mit ihren Problemen und Erlebnissen werden auf empathische Weise dargestellt. Was fasziniert ist jedoch nicht nur der Inhalt, der lebensrelevante Fragen auf vielschichtige Weise widerspiegelt, es ist vielmehr die sprachliche Stärke, die hier zum Einsatz kommt. Es ist die Art und Weise, wie die Autorin erzählt, der Tiefgang und die Intellektualität.
Kein einfaches Buch, die Sprache lockt den Leser, sie spielt mit ihm als Kunstform einer lyrischen Prosa, die vielschichtig und nicht einfach ist. Sie ist zum Teil ernüchternd realistisch, findet aber noch in der Verwahrlosung sprachlich ästhetische Momente die sehr bemerkenswert sind. Für mich war die Lektüre eine Bereicherung, klare Leseempfehlung für diese Erzählung.
Léon, 5,0 von 5 Sternen: Intensiv!
21. März 2019
Eine alte Frau und eine junge Frau prallen aufeinander. Kontraste zwischen Gruppen und Menschen in der Stadt sind unübersehbar. Hautnah, auch in ihrer Sprache ausdrucksstark. Zärtliche Begegnungen, wachsendes Begehren und eine Liebe, die den Tod mit dem Leben verbindet. Anregend und lohnenswert zu lesen!
Eugen Shurishyn: 5,0 von 5 Sternen: WEITERSAGEN
24. März 2019
Der Autorin gelingt es äußerst gelungen die Stränge zu Verknüpfen und eine seltene Tiefgründigkeit zu erreichen. Lesens- und empfehlenswert!
Auszüge
"Die unzählige Alte"
Erzählung
Themengruppe1: Maren und Johanna; Simon und Frank
Der Junge war mager und hibbelig und unübersehbar auffällig mit sich selbst beschäftigt. Er lief zwischen den hohen Bücherwänden der Universitätsbibliothek hindurch und zog Schleifen, stapelte unsichtbare dicke Wälzer und Papiere auf einem freien Tisch, baute Türmchen auf und wieder ab, lief zurück in die Gänge, tänzelte. Zwischen Material und Boden glitt er aus und fiel und schob sich in eine Lücke ausgeliehenen Freiraums zwischen Max Weber und Werner Sombart. Da lugten braunes Haar und ebenso braune Augen und eine kleine Rotznase in einem ovalen Gesichtchen für einen Moment zart und still hervor und lauschten den gelehrten Geräuschen belesener erwachsener Menschen, und Maren konnte nicht anders als lächeln. Dann ging sie wieder an ihren Tisch, meinte, im Umblicken einen zu erkennen, der zu dem Kind gehören mochte und sammelte ein, was sie brauchte, um zu verstehen. Anderntags sah sie schon auf dem Sprung zu einer Vorlesung den Jungen wieder, diesmal in der philosophischen Bibliothek, und auch die Hand, die ihn umfasste. Das ist doch der Bibliothekar, dachte Maren bei sich, der aushilft, wo er kann, und wo er nicht kann, hilft er auch und knipst den Lichtschalter an, wenn nötig, damit die Buchstaben genauer in uns einfallen und nüchterne Gedanken sich ordnen, und gießt die Pflanzen in den Räumen, die uns zu einer harmonischen Gliederung der begrifflichen Erkenntnis im Widerschein der Natur verhelfen, und geht ans Telefon und ordnet Fragen in der richtigen Reihenfolge nach Handapparat, Software und Seminarräumen, und manchmal verhaspelt er sich beim Reden, hat nicht studiert, ist nicht wie unsereins, denkt er, und wird noch ein wenig beflissener. Eine Dreiviertelstelle hat er und sieht denen zu, die über ihn hinweglesen und liefert, was er zu tun bekommt. Und das Kind gehört zu ihm. Aber was soll an dem Kind anders sein als an anderen, was meinst Du, alle sind sich doch auch nicht gleich. Maren weiß es nicht zu entscheiden, nickt freundlich im Hinausgehen. Da steht das Kind und wartet, dass der Vater endlich Zeit hat nicht nur für andere. In den braunen Augen streiten sich Neugierde und die Furcht, dass die Neugierde umsonst ist. Der Vater schaut sehnsüchtig aus dem Fenster. ...
Johanna Maria Born sitzt wie immer. Maren stellt sie sich einen Augenblick vor: Gurte um Arme und Beine in einer endlosen Reihe von Betten in einer endlosen Reihe von Zimmern mit einer endlosen Reihe von Psychopharmaka zur endlosen Beruhigung, die endlich einmal still hält. Denn sie kann noch ganz anders. Wenn schon Frauen kommen. Die jungen Weiber haben schwarzes, rotes, blondes Haar, tragen Schamhaar zwischen den Beinen und die Brüste zeichnen sich ab unter der Bluse, hier sitzt ein BH, und dort die eng anliegende Hose und das Top bekunden Sinnlichkeit, und bunt bedruckte, kurze leichte Kleider drücken Freude aus. Johanna schließt geblendet die Augen und senkt das Kinn, bis ihr der Nacken steif wird. Maren steht in der Kochnische und räumt das Geschirr ein. Sie hat Brötchen mitgebracht und Kuchen, das muss nicht sein. Der Kuchen verrät eine Vorliebe. Johanna ist versessen auf Süßes und geht schon lange keine weiten Wege mehr. Maren dreht sich seitwärts, Johanna hält ein wenig den Kopf in ihre Richtung. Das nimmt sie als Signal, ist herzlich dabei in Gedanken, den Vormittag zu verschönern, knappst eine gemütliche Viertelstunde vom abgespulten Durchlauf einzelner Dienstvorschriften ab, harkt Freiräume auf Arbeitsschritte, erzählt Johanna von einem Märchenbuch, welches sich zum unbefangenen Vorlesen eignete, oder es ließe sich munter unterhalten, steht die Sonne nicht hoch am Himmel heute Johanna, die, wenn uns des Lebens Leere tötet, uns mit Hoffnungen das Herz verjüngt. Johanna reagiert prompt und unvermittelt und rundheraus: “Du hast aber einen ganz schön fetten Arsch!“, sagt sie. ...
Die Treppe führt zu einem der Ess-Säle hinauf, taucht ein im Gewirr vor glasbedeckter Kulisse. Neben ihr werden Lippenbekenntnisse im Schrittmaß durch den Raum geworfen, Essensgerüche ziehen in rascher Abfolge durch den Speisesaal. Der blanke Boden schweigt dazu. Laute Stimmen hallen durch die anliegenden Räume, Gelächter durchzieht den von Studenten bevölkerten Gang: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Da hast du den Salat, wenn die Philosophie so durch den Alltag schlendert, ist sie schlecht zu gebrauchen, und wenn sie gebräuchlich wird, ist sie keine Philosophie mehr. Maren ist er gleich aufgefallen, wie er vorsichtig das Tablett balanciert, angestrengt die Armbeugen um die scharfkantigen Ränder schlingt, damit die Nudeln mit der Spaghettisoße und das Joghurtdressing über den Salatblättern nicht ins Wanken geraten, und die kleine Zungenspitze schiebt sich rot zwischen die zusammengepressten Lippen, und junge Augen blicken derweil suchend nach einem freien Platz, womöglich an einer Fensterfront. Maren will dem Kind gern den Gefallen tun und ausweichen, das tut sie auch, etwas zu hastig vielleicht wegen der Gedanken, die auszublenden ihr nicht gleich gelungen ist, sonst hätte sie den Mann am Tisch aufspringen sehen, wie er da mit seinem Stuhl um sich schubst aus Versehen, wer nun selbstvergessen wen anrempelt, ist an der schwappenden Salatsoße nicht mehr zu rekapitulieren. Die Spagetti hängen dem Jungen jedenfalls im Haar und das Dressing klebt unterhalb von Marens Kinn. Der Junge wirft den Kopf zurück, als wolle er das Tablett hinwerfen. „Du hast nicht aufgepasst!“, ruft eine dünne helle Stimme, und die Augen tauchen dunkel ab und reißen Wut auf und werfen sich auf Maren, und eine kleine Hand, die das Tablett loslässt, zieht sich eine einzelne Spaghetti vom braunbewirbelten Schopf und hält sie ihr vorwurfsvoll vor die Nase. Nun schwingt die dünne Nudel hin und her, leicht nur, aber ersichtlich und das spöttische Schmunzeln drumherum bleibt sitzen und sieht zu.
Da kam er wie gerufen, immer zwei Treppenstufen auf einmal, etwas außer Atem und half uns. Er drückte mir mehrere Servietten in die Hand, nahm dem Jungen das Tablett ab, eine Kassiererin eilte mit einem Wischlappen herbei. Sie wusste offensichtlich Bescheid, der Junge gehörte zu ihm und aß, wie des öfteren schon, hier zu Mittag. Ich bot eine neue Portion auf meine Rechnung an. Der Bibliothekar putzte Soßenflecken von der Kleidung seines Sohnes und sagte, das sei nicht nötig, keinesfalls, und Verlegenheit stieß mir Blut in die Wangen unterhalb der Haut und ließ mich seitwärts zur Salattheke blicken, doch die Kassiererin fand von Angesicht zu Angesicht, das sei alles halb so schlimm, und trug die Peinlichkeit mit dem besudelten Tablett und dem schmutzigen Lappen fort. Der Junge hatte seinen Blick umgezogen, sah aufmerksam nach meinem Haar und ich wollte immer noch wie selbstverständlich sein Essen bezahlen. Unter keinen Umständen, sagte sein Vater und versicherte mir, was alles nicht nötig sei in einer solchen Situation und in jeder anderen auch nicht. Wir kommen allein zurecht, danke. Aber ich ließ sie nicht allein zurechtkommen, es war mir geradezu unmöglich, ich bestand auf Wiedergutmachung. Wir gingen zusammen zwischen Mengen von Leibern und Köpfen und Wortblasen zum Salat- und Nudelbuffet und dann in die Warteschleife zur Kasse und vermieden es, eine Nähe heraufzubeschwören, die die Anonymität von Unbekannten zerstört und konventionelle Verpflichtungen, wie das Verziehen eines Gesichts, das Bekanntmachen von Namen und die Bereitwilligkeit von Bewusstsein, herausfordert, als täte man es freiwillig und nicht aus Übereinkunft. Vor der Kasse nahm die Verlegenheit wieder zu, als in der Schlange die Worte sich nutzlos freundlich ergaben und über jede intime Abweichung hinwegglitten und die Kassiererin uns aufmunternd zulächelte und der Kopf leer und still wartete und fremde Rücken und fremdes Nackenhaar sich nur wenige Zentimeter vor meiner Nase bewegten und der Junge neben mir wieder sein Gesicht anhob und mein Haar betrachtete. Da erklärte er eine Spur zu großzügig, dass ich bei ihnen sitzen könne, und war sehr weitsichtig für sein Alter, weil nur noch ein Tisch an der Fensterfront frei war und ich ihm schlecht antworten konnte, dass ich nichts lieber wollte als von ihm weg um die Ecke meiner aufgehalsten Unachtsamkeit zu biegen. Sein Vater verstand sogleich und unterbrach mit: „Simon!“, und ich überlegte es mir anders und sagte: „Nein, nein. Ich komme gerne mit, wenn Sie nichts dagegen haben“, und wir gingen zu dritt an den Fenstertisch und der Junge saß zufrieden. Er entzog uns jede weitere Aufmerksamkeit und aß und suchte die einzelnen wandernden Flecken auf dem Campus als Menschen zu zählen. Als er laut bei vierunddreißig angekommen war, hatte ich Salatblätter mundgerecht auf die Gabelspitzen verteilt und sein Vater hielt seine Ellenbogen dicht am Körper. „Ich heiße übrigens Frank, Frank Jakobi“, sagte er, „ich habe die Bibliothekarsstelle im Fachbereich Philosophie inne, ich glaube, wir kennen uns schon vom Sehen“. „Ja, das kann sein“, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass es so war. Simon unterbrach das Zählen, als er meinen Namen hörte, und beugte sich mit seinem Oberkörper über die Tischplatte. „Weißt du was? Meine Mama hieß Susanne, aber sie ist tot, “ sagte er und seine grünbraunen Augen nahmen einen hellen Ton an. In seinem Gesicht zog sich jede Lebhaftigkeit zurück, sein Blick wurde so spröde wie die Ellenbogenflicken an der Herrenjacke seines Vaters. „Na sowas“, sagte ich trocken, ohne es zu wollen, „da haben wir was gemeinsam, meine auch.“ Der Junge machte den Eindruck, als ob er verstünde. Er nickte lebhaft. „Sie ist schon tot, seit ich lebe. Aber ich hab ja noch einen Papa“, sagte er und wir vermieden es, seinen ruckartig den Stuhl zurückschiebenden Vater zu beachten, und taten so, als seien wir unter uns. „Und Deiner? Was ist mit Deinem?“, fragte Simon mit offen aufgeschlagenem andächtigem Mund und ich ließ die Gabel sinken. „Der ist tot“, sagte ich ruhig.
Themengruppe 2: Marens Freundinnen Charlotte und Amira; Simon
Charlotte dachte sich nichts dabei, als der Professor auf sie zutrat. Sie begegnete ihm im Foyer des philosophischen Instituts, zwischen Tür und Angel schob sie sich an ihm vorbei, er sah sie wohlwollenden Sinnes aufmunternd an und folgte ihr lüstern mit seinen Blicken. Sie war nicht in der Lage, es gelassen zu nehmen, der Sog von Versprechungen hob sie auf, zog sie heran und schenkte ihr Spiegel, in denen sie sich wiederfand. Er lockte sie näher und näher, sie war gebunden wie an einer unsichtbar verlängerten Schnur, bis sie vor ihm stand mit einem strahlenden Lächeln. „Wir sind Schablonen unserer selbst“, schrie sie Maren später ins Ohr, das war im dampfenden Rhythmus des Tanzes, und auf dem Weg von der Disko zum Eschenheimer Tor nachts um halb eins erzählte sie von einer Einladung zu einem Empfang im Frankfurter Hof für Finanzmakler und Wirtschaftsfachkräfte des Rhein-Main-Gebietes. „Wundern Sie sich nicht über die Vorträge der Manager, die Technologen von heute haben ganz eigene Vorstellungen von der Planbarkeit ihrer Strategien“, sagte der Professor lächelnd. „Ich bin es gewohnt“, erwiderte Charlotte und dachte an die vielen Schnipsel auf dem Börsenparkett, die alltäglich erneuert werden wollten; sah er sich als Anlage-Chance oder war sie für ein Quickie gut? „Nebenwerte haben oft ein erheblich höheres Renditepotential als die Papiere großer Konzerne“, so lesen die Anleger, die sich um eine Auswahl europäischer Small-Fonds bemühen. Die Nervosität in Schwellenländern wächst. Die jüngste Meldung des Tages lautete daher: Aktieninvestments in Fernost bleiben riskant. Aber wie schnell kann sich das ändern. Und sie stehen immer noch da, und Charlotte findet ihn nicht einmal sonderlich attraktiv. Der klassische „Top-Down-Stil“, welcher der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eines Landes bei der Investition eine höhere Bedeutung beimisst als der individuellen Aktienauswahl, ist out. Wer wüsste das besser als sie. Er bietet sich ungeniert an, daraus lässt sich schlecht eine Schlagzeile machen, die Krisen aufstrebender Länder und die geringe Liquidität dortiger Börsen sind mit seinem Angebot nicht zu vergleichen. Ob er sich beraten lässt, wo und wie er etwas anlegt? Von seiner Frau offensichtlich nicht, sonst wäre er nicht auf Charlotte verfallen. Investitionen in den heimischen Rentenmärkten scheinen derzeit für Investoren ohnehin attraktiv. Kaufkraft zahlt sich aus, das ist proportional gehandelt. Charlotte lächelt vor sich hin, gar nicht mühsam. Was lässt ihn ihrer so sicher sein? Er weist dezent darauf hin, dass Abendgarderobe angemessen wäre: das amüsiert sie. Ob seine Frau lieber ein kurzes Schwarzes oder weichfließenden samtenen Stoff bevorzugt? Sie werden lachend Champagner trinken, bitzelnde, abgefüllte Wut.
Am besagten Abend trug Charlotte ein nachtblaues knöchellanges Wollkleid, dessen weiche Stoffwellen den Bogen von den Schultern über die Wölbung ihrer Brüste in zwei Atemzügen nahmen, um sich dann still und anschmiegsam um ihre Taille zu legen und über die Hüften hinab mit den Bewegungen ihrer Beine zu spielen. Sie hatte sich ein Taxi genommen, um nicht in betrunkenem Zustand nach Hause fahren zu müssen und sich vorsorglich den Rückweg à deux abzuschneiden. Er stand schon da und wartete in einem locker aufgetragenen, graumelierten Anzug von der Sorte, die sich um Kosten nicht schert, die goldenen Manschettenknöpfe funkelten mit der Krawattennadel um die Gunst eines dezent snobistischen Anblicks. Sie gingen gemeinsam durch die Halle, er um Armeslänge hinter ihr, sein Blick maß ihren Po, streifte ihre rechte Armbeuge, ihre Schulter, schob sich nach vorn und blieb an ihrem Schlüsselbein oberhalb des runden Halsausschnitts hängen. „Auch ich habe ein Herz! Ich sehe den Internationalen Währungsfond als Verhinderer von Krisen“, beteuerte ein in seinen Vortrag vertiefter, in führender Position sich darlegender Geschäftsmann, als sie in den Saal traten. „Eher doch eine Regulierungsinstanz“, korrigierte Charlotte den Redner halblaut, während der Professor sie an einen Ecktisch nur unweit des Eingangs führte. Champagner gab es tatsächlich, sie zog einen Merlot vor. „Das ist eine Reaktion auf den letzten Gipfel und die Proteste der demonstrierenden Globalisierungsgegner“, murmelte der Professor, blickte kurz zum Redner hinüber, und sah sie dann entschlossen unter gekonnt gescheiteltem graumeliertem Haar an. Charlotte hörte immer weniger, atmete kaum, blickte auf seine Hände. Braungebrannt, behaart und kräftig waren die Handrücken, hinter der Brille blinkte gestählter Granit, wellenförmiges, eindringliches Interesse, das nichts offen ließ und sie überflutete. Schlechte Zähne hatte er, bemühte sie sich festzustellen, hinter sinnlich aufgeworfenem Lippenfleisch und spitzen Lippenhügeln. Er parierte ihre plötzliche Schweigsamkeit mit einer verlockenden Öffnung seines Kiefers, der ihr Einblick im Spalt seiner Lippen erlaubte.
Wo bleibt dein kühler Kopf? Charlotte, gar nicht müde, wusste es nicht mehr, trunken von etwas, was nicht das dritte Glas Wein sein konnte. Da saßen sie aber schon um einen kleinen Tisch an der Ecknische der Bar und hatten die dritte Rednerriege seit längerem, genauer seit einer dreiviertel Stunde, hinter sich gelassen, sie war von diesem und jenem fremd-illustren, geschäftig-jovialen Hemdsärmeligen adrett oder freundlich mit Handschlag, sogar mit Diener begrüßt worden, hatte neugierige, lüstern augenzwinkernde Anzüglichkeiten männlichen und weiblichen Geschlechts über Gesicht und Körper streifen lassen, nahm ihr Glas wie jedes andere, setzte es an, trank in einem Zug, legte den Kopf zurück und lachte herzlich, laut und unbekümmert, bist du das, fragte sie sich kurz, sehr kurz, mein geheimer Bauchredner, plaudere ja nicht aus dem Nähkästchen, also erzählt sie von dem Kunststudium im Nebenfach damals, vor Jahren, als sie Maren kennenlernte. Und er parliert mit offenem Stehkragen, schwitzt nicht, obwohl sie glüht, aber seine Beinstellung verrät ihn, er schwenkt die Knie wie einer, der sich kaum noch halten kann. Sitzt da vornübergebeugt, inzwischen duzen sie sich, er erzählt vom Floß der Medusa, abwechselnd von der Geschichte und dem Gemälde, als verstünde er was davon...
als ich zum ersten mal in einem deutschen krankenhaus arbeitete, sagte mir eine weiße stationsschwester, ausländer würden stinken. sie riechen anders als wir einheimischen, verstehen sie, sagte sie herzlich und nett, wahrscheinlich weil sie sich anders ernähren und pflegen, aber sie werden sich sicher schon bald bei uns eingewöhnen, sagte sie freundlich, sie sind ja ärztin. als ich zum ersten mal in washington war und an dem großen geschäftsessen nach barrys einstand in der firma teilnahm, war ich die einzige schwarze unter all den weißen im saal, mit ausnahme derer, die uns bedienten. als ich george neulich vor dem dienst zur schule fuhr, weil wir seinen turnbeutel zu packen vergaßen, und er es eilig hatte, erzählte er mir im auto, dass seine mitschüler ihn gefragt hätten, ob unsere nasen von geburt an so platt seien. irgendwie deformiert, sagten sie. barry ist als weißer amerikaner, der in ihrem land arbeitet, gern gesehen, wenn es um die unersetzlichkeit der amerikanischen vorstellungen von freiheitlicher demokratie geht, das geht auch uns etwas an, sagen sie, wir haben den holocaust in die welt gesetzt, und ihr nur die sklaverei. obwohl barry nicht müde wird zu erklären, aus welchem land ich komme, bleibe ich die afrikanerin, simbabwe, nigeria oder kenia, entschuldigen sie, wo kamen sie her? fragen sie, gibt es bei ihnen denn noch großwildjagden? ich sage ja, und auch buschmänner. ihre frau ist so hübsch, loben sie barry, da haben sie sich ja ein kleinod mitgebracht. bohrt shell nicht auch für uns in der gegend?
Der Junge saß gesenkten Kopfes und las, er las auch noch, als Maren leise durch die Glastür in die Bibliothek trat, und wenn man genau hinsah, tat er nur so. Er wartete auf den Heimweg zu einer warmen Mahlzeit in bewohnten, vertrauten Räumlichkeiten, und die Studentin mit dem matten braunen Schimmer von Kastanien im dunklen Haar, die den Farbton und das humorvolle Lächeln auf seinem Nachttisch geklaut hatte mit ihrer Verdopplung, ging ihn nichts an. Sie ging auch um eine Ecke und sah ihn nicht, sprach nicht mit ihm, merkte nichts, packte ihre Bücher aus, und im Lächeln hatte er sich geirrt: da war keins. Da rief ihn sein Vater von der sich wiederholt öffnenden Glastüre zu sich, und er sprang auf und sah sich nur ein einziges Mal um und kümmerte sich keinen Deut um sie. Es würde Kartoffelbrei geben und Mais und Spiegelei heute Abend, wie er es liebte. Sie mussten aber einen Umweg machen, denn es war Fachbereichssitzung, erklärte ihm sein Vater, heute Abend, Simon, bist Du allein zu Haus. Sie liefen in einem schnellen Zug eilig über den Campus und Simon durchdachte die gebratenen duftenden Spiegeleier auf seinem Teller und half die Kartoffeln mit Milch zu begießen und kleinzustampfen, und nahm sich den Teller randvoll mit Mais. Dann schob er das Durchdachte auf morgen, denn die Fachbereichssitzung wartete auf eine Vorbereitung kopierter gelehrter Geräusche und tonneweise Papier in einer Erwachsenenwelt, die sich mit Mais schlecht vertrug. Sie traten in ein turmhohes Gebäude ein und stiegen im Getümmel ihn streifender Körper eine Treppe hinauf. Auf einem tunnelartigen Flur vor einer Reihe von auf- und zuklappenden Türen inmitten über ihn hinwegsehender, stirnrunzelnder junger Menschen und ihren unbegreiflichen Worten aus Solipsismus Dogemnzwang Entwicklugnslogik sprach sein Vater mit einem lustigen Männchen, das beim Reden mit den Händen wie ein Fechtmeister fuchtelte, ihm mit seinem Zeigefinger beinahe ins Nasenloch stach und quer über seine Schulter in die Luft schnitt, als wolle er ihm das Stechen beibringen, aber so gut wie Errol Flynn war er nicht. Als sie die Treppe wieder hinunterstiegen, machte sein Vater ein sorgenvoll vorbereitetes Gesicht, in dem sich Arbeit anhäufte, das Gesicht verschwand in der Arbeit, und die Arbeit nahm die Spiegeleier und fraß sie auf, und den Kartoffelbrei zerstampfte sie bis zur Unappetitlichkeit, und ein kleines Häufchen Mais blieb übrig, dazu gab es ein belegtes Brot. Aber ein Eis, Papa, wollen wir ein Eis essen gehen, und meine Legoburg hast Du Dir letzte Woche nicht angesehen, weil Du sie Dir vorgestern ansehen wolltest, und vorgestern ist heute und heute hast Du keine Zeit. Es tut mir Leid, mein Sohn, ich hätte gern Zeit für Dich, morgen bestimmt. Und wieso lag ich im Blut und Mama starb daran.
Themengruppe 4: Sexualität und Liebe - Maren und Frank
Unser Mundwerk durchstößt das Siebengebirge. Wo waren
wir stehen geblieben? An einer Straßenecke oder auf einer
Wiese oder hier im Restaurant, das ist doch gleich, in Gedanken
verzückt, drei Finger im Mund, nicht einen Penis. Das Geräusch,
das seine Gabel macht, wenn er mit ihrem Rücken unbeabsichtigt
über die soßenübergossenenen Nudeln patscht,
ein schmatzendes, klatschendes, rhythmisches Geräusch, so
wie er es wiederholt, erinnert es an einen warmen, flüssig
vollzogenen Akt. Und doch höre ich jedes Wort schonungslos
und benommen, mein Sensorium pocht auf Genauigkeit, die
Berge sind nicht versetzt. Das Innere ist nach außen gekehrt;
ich sehe seine Anhäufung von Schmerz. Ich wecke die Morgenröte
den Himmeln zuliebe, erinnere mich nicht mehr an
des Satzes Anfang, meine Unsicherheit, ich wüsste nicht, was
das Unwiderrufliche sein soll, sag. .....
Mich streifen nur noch blasse Blicke:
Greise Spatzen über seismographischen Zehen. Keine Fassung
mehr. Geplatzt. Wie geronnenes Blut lag Dein Bild zusammengeschmolzen
auf dem Bett und maskierte alle Anwesenden.
Nach diesem Tod nur sinnlose Leere. Der kleine Kopf an
meiner Brust vollkommen benetzt von meinen fühllosen Tränen.
Das braune Haar. Zarte lange Wimpern. Die kleine Hand,
die sich öffnete und wieder schloss. Blanke Augen, die irgendwo,
aber nicht von dieser Welt waren. Ohnmacht und Glück.
Eine Wasserstelle in einer Wüste. Kann ich das Maren erzählen?
Wird sie mich verstehen, jung, wie sie ist? Zwischen uns
wirkt Kommunikation nicht auf ihr Äußeres reduziert: die verschiedenen
Anliegen. Ich fühle mich ächzen unter Misstrauen
und Vorsicht, Altlasten. Selbsterkenntnis fällt mir schwer heute
Abend, Susanne. Nun ist sie es, die mich an Simon erinnert.
Wir haben schneller gegessen als beabsichtigt, es ist kaum
mehr als eine Stunde vergangen. Warum dieser Blick auf die
Uhr. ......
Noch sperrt sich etwas zwischen uns, eine verloren
gegangene Vorbehaltlosigkeit auf beiden Seiten.
Das Stadtviertel in Abendstimmung, der nieselnde feine Regen
im Licht der Laternen, bevor er vom Dunkel abgeschnitten
wird und erst als Nässe auf dem Asphalt wieder auftaucht.
Die verschlossenen Häuserfassaden, die sich im Hintergrund
halten und durch einzelne, hell erleuchtete Fenster
und durch schemenhafte Konturen einzelner Möbelstücke
aus ihrer Auskunftslosigkeit gerissen werden. Das kurze Auftauchen
eines einzelnen Gesichtes über hochgeschlagenem
Mantelkragen, unsere Schritte, die sich in unregelmäßigen
Abständen voneinander abheben und im Takt aufeinandertreffen.
Die Kälte, die meine Finger erreicht und bevor sie sie
in einen erstarrten Zustand verwandelt, mich leichthin nach
Marens Hand greifen lässt. Die Wärme, die mir ihr Händedruck
vermittelt auf diesem Weg zu meiner Wohnung, das alles
ist so ungewöhnlich, kein Spiel, aber auch nicht mehr als
ein Versuch. Ich fühle mich nicht unwohl bei dem Gedanken,
dass ich eine Frau mit nach Hause nehme, selten genug ist
mir das passiert. Simon hat nie nachgefragt, zwei, dreimal hat
er die Frauen beim Frühstück aufmerksam begutachtet, sich
kaum gerührt dabei, seine Milch oder seinen Apfelsaft über
ihre Kleider oder den Küchenboden vergossen und sich dann
in sein Zimmer verzogen.
Als wir in die Wohnung eintraten, war es still. Schon im Treppenhaus
hatte ich ein unruhiges, angespanntes Gefühl, das
aber zugleich aufreizend und sinnlich meine Nackenhaare
sträubte. Die Bewegung seiner Finger reizte die empfindliche
Haut meines Handrückens, sein Daumen glitt zart und wie nebensächlich
über die Innenfläche meiner Hand, bevor er die
Tür aufschloss. Ich sah seinen Hinterkopf an und hätte gern
beide Hände ausgestreckt und schmeichelnd unter die Jacke
geschoben, und weiter unter den Pullover, um sanft das Unterhemd
aus der Hose zu ziehen und die warme, pulsierende
Haut unter den Achselhöhlen zu erreichen, mich an ihrer
Liebkosung zu erwärmen, aber selbstverständlich unterließ
ich das. Er muss etwas gespürt haben, denn er drehte sich
ruckartig zu mir um und lächelte mich etwas unsicher, aber so
unglaublich werbend, so gelöst von sinnlicher Bewegung, an.
Das ging hin und her und her und hin, und zwischendurch
ging das Licht im Treppenhaus aus und durch meine gespannten
Brüste und meine Wirbel zog die Stille gewisser bannender
körpereigener Kräfte, meine Brustwarzen reckten sich,
meine Zunge lag wie in Öl, meine Ohren wurden heiß und ich
spürte jeden meiner Atemzüge in meinen Hüften. Tonlos gingen
wir in den Flur, er half mir ohne Hast aus meiner Jacke,
und ich spürte, wie ich schon seinen Berührungen entgegenkam
und erlag, als sie noch im magischen Dunstkreis unserer
Vorstellungen verharrten. Im Schlafzimmer erwartete uns
eine Überraschung, als sich beim Eintritt ins Kinderzimmer
meine Unruhe wegen Simon als berechtigt erwies, sein Bett
leer war und die Kinderdecke auch nicht mehr dort lag. Stattdessen
schlief das Kind mit breit ausgestreckten Beinen und
eng an den Körper gedrückten Armen, den Kopf an das Kissen
geknuddelt, im Bett seines Vaters und gab kleine Töne von
sich, die einen schweren, tiefen Traum erahnen ließen.
Ich wandte mich ab und ging voran ins Wohnzimmer, das
mir gleichzeitig als Arbeitszimmer dient, und in dem außer einem
wuchtigen dunklen Tisch, mehreren Stühlen, zwei Bücherregalen
und zwei Sesseln nur eine schmale Couch stand,
die nicht einmal eine Vorrichtung aufwies, um ausgezogen in
eine gemütliche Liegefläche umgewandelt zu werden. Sie
schien gar nicht verärgert zu sein, eher belustigt, aber ich sah
die Befangenheit, mit der sie sich zögernd auf die Couch setzte
und sich das Haar aus der Schläfe strich, sie schlug die Beine
übereinander, und während ich die schweren Vorhänge
am breiten Flügelfenster zuzog und die Nachtschwärze ausschloss,
sah ich mich ihre Beine öffnen, an den Knien die weiße
Haut streicheln, die in Wirklichkeit von einer schwarzen
Strumpfhose bedeckt waren. Der Rock, den sie trug, war geknöpft,
ich murmelte eine Entschuldigung, weil ich den Korkenzieher
nicht gleich fand. Ich fand ihn aber auch in der Küche
nicht, und während ich eine Schublade nach der anderen
aufzog, kam ich mir wie ein unbeholfener, pubertierender
Depp vor wie schon lange nicht mehr. Als ich zurück ins Zimmer
trat, um ich weiß nicht was für Dummheiten zu sagen,
stand Maren, den Kopf etwas zur Seite gewandt, auf, und hatte
bereits die kleine Schreibtischlampe an und das große Licht
ausgeschaltet. Ich sah sie an, bis sie den Kopf wandte. Ihre
Augen fuhren mir zwischen die Rippen, dass es schmerzte.
Unser Ansehen entfaltete sich wie ein magisches Antlitz von
Bedeutung und Duft und Schwere im Raum und hüllte uns ein
wie ein Mantel, gegen den selbst Sankt Martin oder Esther
kaum etwas einzuwenden vermocht hätten. Ich wollte nichts
anderes als sie ansehen, aber das ging nicht, weil in mir
zugleich etwas mehr wollte, viel mehr, ihr Gesicht, ihre
Brüste, ihren Po streicheln, ihre Lippen, ihren Kitzler, ihre
Schließmuskeln küssen, von ihrer Haut kosten, zupacken, sie
verschlingen, ihre Arme nehmen, meine Beine geben, aufstöhnen,
hinein beißen, eingraben, schwitzen, stoßen...................
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Quellen:
Zitate entstammen der philosophischen Fachliteratur; der FAZ und der FR wurden Auszüge entnommen. Ferner wird aus dem Archiv "Frauenleben" des Main-Kinzig-Kreises dokumentiert und fanden Absätze aus Rudolf Virchows 1852 erschienener Sozialstudie über "Die Noth im Spessart" Eingang in den Text.
(Titelbild: Julian Frederik Kolbe)